Sitzen macht krank, dick und dumm. Wirklich?
Wer will sich schon während der Arbeit krank sitzen?
Das Berufsleben ist schon hart und anstrengend genug. Zudem bedeutet Krankheit zusätzlicher Stress für Arbeitnehmende.
Das Gesundheitsbewusstsein hat sich fundamental gewandelt. Wer heute noch raucht, wird wir ein Aussätziger behandelt. Die Aschenbecher sind versteckt vor den Eingangstüren der Firmen montiert. Ist das Wetter mies, dann ist das Rauchen schon lange kein Genuss mehr. Die missbilligenden Blicke der Nichtraucher tun das ihre dazu.
Gleich ist es mit dem Übergewicht. Wer zu viele Pfunde auf den Knochen hat, der wird als schwach und debil eingestuft. Schliesslich gibt es ja überall gleich um die Ecke Fitnessstudios, wo man gegen das Fett ankämpfen kann. Darüber hinaus gibt es Diätprogramme wie Sand am Meer und einschlägige Fachliteratur, die sich dem Thema mit grosser Inbrunst widmet.
Die korrekte Nahrungsaufnahme nimmt heute neoreligiöse Züge an. Es wurde wahrscheinlich in der entwickelten und sogenannten zivilisierten Welt noch nie so viel Obst und Gemüse gegessen. Der Ballaststoff ist die neue Monstranz der ausgewogenen Ernährung geworden. Mit grimmiger Entschlossenheit und grosser Ernsthaftigkeit werden Lebensmittelinformationen, heute heisst das modern ‚Food Facts‘, auf den Verpackungen gelesen, als ob es sich um wissenschaftliche Erkenntnisse der Ernährungslehre handeln würde.
Der zu Hochglanz polierte, makellose, wahrscheinlich pestizidverseuchte Superapfel aus Lateinamerika, der angeblich biologisch am Ast wuchs und mit dem Flugzeug in den westeuropäischen Winter geflogen wurde, ist das neue Insigne auf den Bürotischen. Die Botschaft ist klar: ‚Seht her – ich lebe gesund!‘ Ganz nach dem Motto: ‚An apple per day, keeps the doctor away!‘
Dieses Gesundheitsbewusstsein, gerade wenn es um Lebensmittel geht, ist auch Ausdruck von Luxus. Viele Menschen auf diesem Globus sind wahrscheinlich froh, wenn sie überhaupt etwas zwischen die Zähne bekommen und genügend Kalorien futtern können, damit die vitalen Lebensfunktionen mit Energie beliefert werden.
Auch das postmoderne Büromobiliar verändert sich aufgrund des wachsenden Gesundheitsbewusstseins. Der Stehtisch ist der neue Altar der Bürowelt. Wer keinen hat ist sich der Gefahren des Sitzens nicht bewusst oder hat einen herzlosen Arbeitgeber, dem es anscheinend gleichgültig ist, ob die Peristaltik des Gedärms sich unbehindert gut entfalten kann und so das allgemeine Wohlbefinden fördert. Schliesslich kann sich nur ein gesunder Geist entwickeln, wenn auch der Körper gesund ist.
Das Geschäft mit der Gesundheit ist ein ‚Multimilliarden-Business‘ geworden. Das Geschäft mit der eigenen Eitelkeit sowieso. Wer gut aussieht, ist gesund. Schön wär’s. Im Zeitungsartikel kommt eine Headline wie folgt vor: ‚Jede Zwangshaltung ist schädlich‘. Punkt. Sitzen Mitarbeitende den lieben langen Tag, und das über Jahre, nur noch auf dem Allerwertesten, ist das sicher nicht gesund. Die Verdauung ist suboptimal, die Sitzmuskulatur erschlafft und der Körper leidet unter der Bewegungsarmut.
Es gibt bis heute keine wissenschaftlich erhärteten Fakten, dass das Stehpult den Menschen gesünder macht oder seine Gesundheit länger erhält. Aber die Büromöbelhersteller freuen sich über den neuen Trend. Wer als moderner Arbeitgeber etwas auf sich hält, reisst den alten Mist raus und staffiert die Arbeitsplätze mit den neuen Errungenschaften aus. Weiter heisst es im Bericht:
Eine britische Langzeitstudie mit mehr als 5000 Teilnehmern zweifelt generell an, dass Sitzen so schädlich ist, wie oft behauptet. Die Arbeitsmediziner um Richard Pulsford von der Universität Exeter haben die Sitzgewohnheiten von Londoner Verwaltungsangestellten über etwa 15 Jahre ausgewertet. In diesem Zeitraum starben 450 der Beamten. Dabei fanden die Wissenschaftler keine Belege dafür, dass die Sterblichkeit etwas damit zu tun hat, wie viele Stunden jemand in seinem Leben herumsitzt.
Bewegung tut not. Darüber gibt es keine Zweifel. Wer läuft, die Treppe hoch steigt und hie und da das Auto stehen lässt oder den Nachhauseweg auf Schusters Rappen erledigt, tut sich, dem Kreislauf und dem Bewegungsapparat etwas Gutes. Kein Arbeitgeber kann was dagegen haben, wenn man ab und zu aufsteht und für wenige Momente Dehnübungen macht, um die Muskulatur zu strecken. Das Stehpult mag das Sinnbild moderner Bürotempel sein. Es macht aber nicht gesünder. Zu langes Stehen belastet ebenso.