Warum wartet die Gerechtigkeit? Eine kurze Weihnachtsgeschichte…
Oberengel Labora, so hiess der etwas angejahrte Kadermitarbeiter des Himmels, nahm grosse Wälzer von der Wolkenbank. Mit dem Ärmel seines nicht mehr so weissen Gewandes wischte er den dicken Staub von den Büchern. Diese enthielten Statistiken. Lange, umfangreiche Zahlenhaufen und Grafiken über die verschiedenen Volkswirtschaften dieser Welt. Seine Chefin mit dem Spitznamen Ora, sie kam ursprünglich aus der Gebetsabteilung, heute heisst diese ‚Paranormale Kommunikation‘, gab ihm einen komplexen Auftrag.
‚Prüf nach‘, sagte sie mit ernster Stimme, ‚warum es in bestimmten Regionen der Welt mehr Arbeitslose gibt.‘ Oberengel Labora verstand sofort, was sie wollte. In einigen Volkswirtschaften brummt es derart stark, dass man händeringend nach Fachkräften sucht, die was können, aber diese nicht immer finden will, obwohl sie eigentlich da wären.
Er nahm aus seinem einfachen Kelch einen kräftigen Schluck Blütensaft. Dieser war leicht perlend und verschaffte ihm die angenehme Illusion besser denken zu können. Es half nichts. Missmutig sah er sich die vielen Zeichen an und wurde nicht richtig klug daraus. Auf der Erde heisst das ‚Big Data‘. Er fand es eher ‚Big Gaga‘. Aber das verstand sowieso niemand. Er rief Auxilia und Promptus zu sich. Zwei kluge Praktikanten, die mit den vielen neuen Himmelsmaschinen besser vertraut waren.
Die nahmen den Auftrag gerne entgegen. Es war ihnen schon seit längerer Zeit sterbenslangweilig. Aber die Ausbildung zum Engel ist ein Monopolberuf. Damit kann sich Engel nicht einfach irgendwo bewerben. Und die Angebote als Schutzengel sind zu wenig attraktiv. Da hat Engel richtig viel Stress. Die Menschen kleben an den Displays ihrer Handys, werden dabei überfahren, fallen in Gruben oder stürzen beim Selfie einfach ab. Die Abteilung Schutzengel ist seit längerer Zeit absolut überlastet. Zudem ist sie in der himmlischen Organisation nicht besonders angesehen. Es gibt dort übermässig zu tun. Die Irdischen gebären sich zuweilen wie hirnlose Hornochsen. Dafür sind sie dann den Himmlischen besonders dankbar, wenn sie gerettet werden und die Schutzengel gut arbeiten. Der Kerzenverkauf hat in den letzten Jahren zugenommen.
Auxilia und Promptus werteten die Daten aus. Es blitzte und donnerte in den Wolkenmaschinen bis die Resultate ausgespuckt waren. Labora beugte sich über diese und vertiefte sich in das was vor ihm lag. Er grummelte dabei und führte Selbstgespräche. Er sah die vielen Unterschiede. Insbesondere die kleine Schweiz gab ihm zu denken. Was war da los?
‚Die sind ja richtig fleissig‘, dachte er laut brummend. Auxilia sah sofort, dass er mehr Datenmaterial brauchte. Sie gab Promptus ein kleines Zeichen. Der drückte auf eine Datenwolke namens Compustratus. Die war voll mit Informationen über dieses arbeitssame Volk. Interessiert schauten ihm die beiden Praktikanten bei der Auswertung über die Flügel und sahen mit Erstaunen wie der alte Engel über die Datensätze strich. ‚Mmhhh…‘, gab er leise vor sich hin. ‚Die sind fleissig, aber die Arbeit ist ungerecht verteilt‘, äusserte er sich mit einem leichten Unterton des Missfallens. Er griff mit einer schraubenden Bewegung in die vor ihm schwebende Wolke. Plötzlich erschien der himmlische Boss als Holografie und erklärte, dass die Verteilung der Arbeit dergestalt ausgerichtet werden muss, dass auch die reiferen Jahrgänge Chancen haben. Zudem ist die Gerechtigkeit immer noch ein himmlischer Kodex, der den Irdischen als Massstab dienen soll. Der Boss verschwand so schnell wie er gekommen war.
Labora schien immer noch andächtig in den göttlichen Worten versunken zu sein. Die himmlischen Praktikanten sahen sich erwartungsvoll an und reckten die Flügel. Endlich kommt ein wenig Leben in die Stille. ‚Wann soll dann die Gerechtigkeit über die Menschen kommen?‘, fragte Auxilia mit leiser Stimme. Labora schaute mit trübseligen Augen in die Runde. Promptus bewegte immerfort seine Flügel als wollte er dem Chefengel kühle Luft fächern. Insgeheim hoffte er, wie Auxilia, dass es sofort losgeht und sich die Gerechtigkeit über dieses Land ergiesst.
Ora, die Chefengelin, schaut kurz auf der Sitzwolke um sich. Sie wollte sich vergewissern, dass alle an der Arbeit waren. Plötzlich schaute Labora ruckartig auf und verkündete mit fester Stimme, dass der Boss kein Datum genannt hat. ‚Das ist sowieso eine von Menschen gemachte Ordnung. Ob die sich nach dem julianischen, gregorianischen oder irgendeinen anderen Kalender richten ist einerlei. Wir starten sofort mit dem neuen Programm‘, meinte er entschlossen. Er drückte in der Himmelsmaschine ein paar Wolken. Es blitzte und donnerte über der Alpenregion. Leichter Schnellfall puderte die Landschaften ein. Labora mengte dem Schnee eine Prise Gerechtigkeit bei und wies die himmlischen Praktikanten an die Mischung im Auge zu behalten. Die Menschen begrüssten den Schnee freudig. Endlich mal weisse Weihnacht. Was für ein Segen. Die Gerechtigkeit rieselte still und leise über das Land.
Wir wünschen eine friedliche Weihnachtszeit und alles Gute im neuen Jahr!