Ist die Leistungsgesellschaft ein Auslaufmodell? Hoffentlich nicht.
Während der Corona-Pandemie zeigte sich eine tiefgreifende Veränderung in der Arbeitsmentalität in der Schweiz. Was zunächst als Zwangsmassnahme begann – die Anordnung, von zu Hause auszuarbeiten – entwickelte sich zu einer unerwarteten Neuausrichtung.
Viele Mitarbeitenden entdeckten plötzlich, dass ihre Tage nicht nur aus endlosen Meetings und Termindruck bestehen mussten. Die neu gewonnene Flexibilität ermöglichte Aktivitäten, die früher kaum denkbar waren. Statt sich durch den morgendlichen Verkehr zu quälen, begann der Tag für viele nun mit einem entspannten Joggingrunde durch das Wohnquartier.
Die Strassen, die zuvor nur am Wochenende von Freizeitsportler:innen belebt waren, wurden plötzlich zu einer täglichen Kulisse für Spaziergänger:innen, Sporttreibende und Radfahrende. Der Gang zum Einkaufsladen konnte sich nun zu einer ausgedehnten Einkaufstour entwickeln, bei der man alte Freunde traf und sich zu einem spontanen Plausch in der Beiz traf. Dieser neue Alltag führte dazu, dass die Berufstätigen nach der Pandemie wie verwandelt schienen.
Mit gesundem Teint im Gesicht und mit einem tiefenentspannten Lächeln auf den Lippen standen sie vor einem, als kämen sie gerade von einer Weltreise zurück. Es war, als hätten viele von ihnen in dieser aussergewöhnlichen Zeit eine Art innere Balance gefunden, die zuvor im hektischen Arbeitsalltag verloren gegangen war. Obwohl es niemand laut aussprach, hörte man hinter vorgehaltener Hand immer wieder, dass die Corona-Zeit für viele die beste ihres Berufslebens war.
Die erzwungene Verlangsamung des Lebensrhythmus bot eine seltene Gelegenheit zur Selbstreflexion und zur Neuausrichtung der Prioritäten. Es war eine Zeit des Innehaltens und des Besinnens auf das Wesentliche. Anstatt sich in der Endlosschleife der täglichen Pflichten zu verlieren, fanden viele zu einer neuen, entspannten Lebensweise. Während der hektische Alltag vor Corona kaum Raum für Musse und Selbstpflege liess, wurde der Müssiggang plötzlich zu einem geschätzten Bestandteil des täglichen Lebens. Menschen nahmen sich die Zeit, ein gutes Buch zu lesen, im Garten zu arbeiten oder einfach nur die Stille zu geniessen.
Diese neuentdeckte Freude am Nichtstun war ein Novum in einer Gesellschaft, die sich sonst über ihren Arbeitseifer definierte.
Arbeitsfleiss versus Hängematte
Trotz der ungebrochenen Arbeitsmoral vieler Schweizer:innen, zeichnet sich ein bemerkenswerter Trend ab: Immer mehr Menschen möchten weniger arbeiten. Dies zeigt sich besonders deutlich darin, dass eine wachsende Zahl von Pensionär:innen sich für den vorzeitigen Ruhestand entscheidet. Viele reduzieren zudem ihre Arbeitsstunden im reifen Berufsalter markant, obwohl die Lebenserwartung massiv steigt und der Arbeitsmarkt brummt. Diese Entwicklung lässt sich durch eine signifikante Abnahme der durchschnittlichen Arbeitszeit in den letzten zehn Jahren belegen.
Interessanterweise sind Sabbaticals (berufliche Auszeit) inzwischen zum Standard geworden. Diese Pausen vom Berufsalltag ermöglichen es den Menschen, sich zu erholen, neue Fähigkeiten zu erlernen oder einfach ihre Freizeit zu geniessen. Eine weitere bemerkenswerte Tendenz ist die Optimierung der Einkommen mit dem Ziel, staatliche Subventionen zu maximieren. Viele gestalten ihre Arbeitszeiten und Einkommensverhältnisse so, damit sie von staatlichen Unterstützungen profitieren können, sei es für die Kinderbetreuung oder die Krankenkassenprämien.
Diese ‘Take-as-much-as-you-can’-Mentalität steht in starkem Kontrast zum traditionellen Bild des fleissigen Schweizers oder der fleissigen Schweizerin, die sich durch harte Arbeit und Pflichtbewusstsein auszeichnen. Früher wurde Arbeit als zentraler Bestandteil des Lebens und als Ausdruck des persönlichen und gesellschaftlichen Erfolgs angesehen. Heute jedoch scheint der Fokus vermehrt auf der Optimierung der Lebensqualität durch eine bessere Balance zwischen Arbeit und Freizeit zu liegen.
Dieser Wandel spiegelt sich nicht nur in den individuellen Entscheidungen der Menschen wider, sondern auch in der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Arbeit und Freizeit. Die Möglichkeit, weniger zu arbeiten und dennoch ein komfortables Leben zu führen, wird zunehmend als erstrebenswert angesehen. Dies deutet auf einen tiefgreifenden kulturellen Wandel hin, der die traditionellen Werte und Normen der Schweizer Arbeitskultur herausfordert.
Die Frage bleibt jedoch, wie nachhaltig dieser Wandel ist und welche langfristigen Auswirkungen er auf die Gesellschaft und Wirtschaft haben wird. Wird die neue Mentalität die Produktivität und Innovationskraft der Schweiz beeinträchtigen oder wird sie vielmehr zu einer höheren Lebenszufriedenheit und einer besseren Work-Life-Balance führen?
Auswirkungen auf Gesellschaft und Wirtschaft
Diese Entwicklungen haben weitreichende und tiefgreifende Auswirkungen auf das Gemeinwohl und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Landes. Die Gesellschaft, die traditionell auf einem starken Leistungsprinzip aufgebaut ist, sieht sich nun mit einer zunehmenden Zahl von Menschen konfrontiert, die eine gelassenere Lebensweise bevorzugen. Diese Veränderung fordert die fundamentalen Werte und Normen, die lange Zeit das Rückgrat der nationalen Identität und des wirtschaftlichen Erfolgs bildeten, stark heraus.
Ein markantes Beispiel dieser Verschiebung zeigt sich im Arbeitsmarkt. Die unattraktiven, öden, gefährlichen oder nervtötenden, aber notwendigen Tieflohnjobs werden immer häufiger von Einwanderern übernommen. Diese Arbeiten, die oft körperlich anstrengend und wenig prestigeträchtig sind, finden kaum noch Anklang bei der einheimischen Bevölkerung. Gleichzeitig sind die sehr gut bezahlten Positionen in der Schweiz zunehmend von Expats besetzt, die von den hohen Gehältern und der stupenden Lebensqualität angezogen werden.
In der sogenannten Mittelschicht hat sich eine um sich greifende Bequemlichkeit breitgemacht. Viele haben es sich in einer komfortablen Nische eingerichtet, die es ihnen erlaubt, von einem bescheidenen, aber ausreichenden Einkommen zu leben, das durch verschiedene staatliche Unterstützungen aufgestockt wird.
Diese Entwicklung führt zu einer wachsenden Schwierigkeit, Menschen zu finden, die bereit sind, ehrenamtliche Tätigkeiten oder öffentliche Ämter zu übernehmen. Die Bereitschaft, sich für wenig Geld und viel Verantwortung in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen, schwindet zunehmend. Irgendwann gehen den Vereinen und Clubs die Vorstandsmitglieder aus, weil niemand mehr in der Freizeit für ein oder kein Butterbrot noch arbeiten oder Verantwortung übernehmen möchte.
Ein besonders bezeichnendes Beispiel für diese Problematik ist die zunehmende Schwierigkeit, geeignete Kandidaten für Gemeinderäte zu finden. Das freudeidgenössische Milizsystem ist vom gesellschaftlichen Wandel erfasst und leidet immer mehr an einer Sinnkrise. Diese Ämter, die einst als ehrenvolle und wichtige Positionen angesehen wurden, haben stark an Attraktivität verloren.
Viele Menschen zögern, sich für solche Posten zur Verfügung zu stellen, da der finanzielle Anreiz gering ist und die damit verbundene Verantwortung hoch. Diese Entwicklung hat gravierende Folgen für das soziale Gefüge und die politische Beteiligung auf lokaler Ebene. Die Gemeinden, die auf engagierte Bürger:innen angewiesen sind, um effektiv zu funktionieren und die Interessen der Bevölkerung zu vertreten, finden immer seltener Menschen, die bereit sind, diese Aufgaben zu übernehmen.
Dieser Rückgang des Engagements schwächt das Fundament des sozialen Zusammenhalts, der auch für die demokratische Ausrichtung des Landes wicht ist. Ohne eine ausreichende Beteiligung und Engagement vieler gut ausgebildeter Berufsleute, wird es schwieriger, gemeinschaftliche Herausforderungen zu meistern und eine inklusive und lebendige Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Die Erosion der Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung und die zunehmende Konzentration auf persönliche Annehmlichkeiten stellt eine ernsthafte Bedrohung für das Gemeinwohl und die langfristige wirtschaftliche Stabilität der Schweiz dar.
Diese Entwicklung fordert die Gesellschaft heraus, neue Wege zu finden, um das Engagement und die Verantwortungsbereitschaft zu fördern. Es ist notwendig, Anreize zu schaffen, die es attraktiver machen, sich für das Gemeinwohl einzusetzen, sei es durch eine bessere finanzielle Entlohnung, durch Anerkennung und Wertschätzung oder durch die Schaffung von Rahmenbedingungen, die die Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Ehrenamt erleichtern.
Bildungssystem in der Mostpresse
Auch im Bildungssystem zeigt sich eine deutliche Verschiebung, die tiefgreifende Auswirkungen auf die Art und Weise hat, wie Leistung und Erfolg gemessen werden. In vielen Schulen wurde die traditionelle Bewertung durch Noten konsequent abgeschafft und durch andere Bewertungen und individuelle Berichte ersetzt. Das soll den Wettbewerb unter den Schüler:innen reduzieren und eine belastungsfreie Lernumgebung schaffen. Doch diese neue Methodik führt zu einer entwertenden Entwicklung der Leistungsbeurteilung. Da Lehrer:innen nicht mehr die unangenehme Aufgabe haben, strenge Noten zu vergeben, steigt die Zahl der vermeintlich guten Bewertungen steil an. Dies erleichtert es den Lehrenden, Konflikte zu vermeiden und schafft eine harmonischere Atmosphäre im Klassenzimmer.
An den Fachhochschulen und Unis setzt sich dieser Trend fort. Hier resultiert die Praxis in einer Flut von hohen Noten, was dazu führt, dass die neuen Absolvent:innen oft schockiert sind, wenn sie in der harten Arbeitswelt feststellen müssen, dass andere Kriterien als ihre bisherige Leistung zählen und diese Welt kein Ponyhof ist.
Arbeitgebende legen mehr und mehr Wert auf profunde praktische Fähigkeiten, Eigeninitiative und Teamfähigkeit, während viele Hochschulabsolvent:innen darauf konditioniert sind, dass allein ihre Noten und akademischen Leistungen zählen. In der Arbeitswelt wird erwartet, dass das theoretische Wissen nach solchen Ausbildungen einfach vorhanden ist. Das hat aber nur einen Wert, wenn es in der realen Arbeitswelt auch Wurzeln schlagen kann, die sich betriebswirtschaftlich als vorteilshaft entpuppen und Geld verdienen lässt.
Erben und Geld ausgeben
Unterstützt wird diese Tendenz der gesellschaftlichen Veränderung durch erhebliche Erbschaften, die einen bedeutenden Einfluss auf die finanzielle Situation vieler Schweizer:innen haben. Jährlich werden Dutzende von Milliarden Franken vererbt, was dazu führt, dass beinahe die Hälfte der Bevölkerung von diesen Vermögen profitieren. Diese beträchtlichen Summen ermöglichen es vielen Menschen, ein angenehmes und komfortables Leben zu führen, ohne sich den Belastungen harter Arbeit aussetzen zu müssen. Der Wohlstand, der dadurch geschaffen wird, öffnet Türen zu einem Lebensstil, der sich durch erhöhten Konsum, weniger Sparsamkeit und mehr Freizeit auszeichnet.
Zudem ist der Konsum auf Pump zur Selbstverständlichkeit geworden. Es wird auf Kredit gekauft, was die sinkende Sparquote weiter untermauert. Reisen und teure Anschaffungen sind trotz der unsicheren Weltlage zur Norm geworden, was auf einen starken Wunsch nach einer hedonistischen Lebenshaltung hinweist. Ganz nach dem Spruch: ‘Was interessieren mich die guten Vorsätze von heute, wenn sie mich schon in der Vergangenheit nicht wirklich interessierten?’
Ein besonders anschauliches Beispiel für diesen Trend ist die steigende Zahl von Haushalten, die sich ohne viel Federlesens Luxus leisten und aus jedem Mini-Ereignis eine Party machen. Vieles wird durch Leasing oder Kredite finanziert, was ein bezeichnendes Merkmal der neuen Konsumkultur ist. Die Aufnahme von Schulden gehört zum guten Ton. Alles andere ist bieder und wertkonservativ.
Die Bereitschaft zur Verschuldung spiegelt eine tiefgreifende Veränderung zum Geld wider. Früher war es üblich, dass man nur das ausgab, was man sich leisten konnte. Heute hingegen ist das Schuldenmachen ein probates Mittel, um sofortigen Zugriff auf vermeintlichen Wohlstand und Komfort zu erlangen. Dies führt dazu, dass immer mehr Menschen in einem Netz von finanziellen Verpflichtungen gefangen sind, dass sie langfristig belasten kann. Die Betreibungs- und Konkursämter ächzen unter der wachsenden Last der laufenden Verfahren.
Dieser Wandel wird nicht nur durch die Verfügbarkeit von Erbschaften, sondern auch durch eine veränderte Einstellung zum Konsum und zur Sparsamkeit begünstigt. Die Menschen sind bereit, mehr auszugeben und Risiken einzugehen, um den gegenwärtigen Moment zu geniessen, anstatt für die Zukunft zu sparen. Diese Entwicklung könnte jedoch langfristig problematisch werden, wenn die Schuldenlast wächst und die finanziellen Reserven schwinden.
Was kommt danach?
Insgesamt deutet diese Entwicklung auf eine tiefgreifende Veränderung in der Schweiz hin, die sowohl Chancen als auch Herausforderungen mit sich bringt. Die Verschiebung von einer leistungsorientierten zu einer freizeitbetonten Mentalität könnte langfristig das nach wie vor starke Fundament der Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur aufweichen. Während einige die neu gewonnene Freiheit und Freizeit geniessen, bleibt die Frage, wie nachhaltig dieser Wandel ist und welche Auswirkungen er auf die Zukunft dieses Landes haben wird.