Aug 14

Gewerbe in der Krise: Die Regeln der Gleichheit auf der Kippe.

Autor: PersonalRadar

Die Schweiz pflegt eine einzigartige Form der Zusammenarbeit zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern: die Sozialpartnerschaft.

(Bildquelle: www.freepik.com)

Ohne staatliche Einmischung einigen sich die Vertreter beider Seiten auf Bedingungen zu Löhnen, Arbeitszeiten und Sicherheitsmassnahmen. Diese Verhandlungen führen zu Gesamtarbeitsverträgen (GAV), die branchenweit oder sogar für einzelne Sektoren allgemeinverbindlich erklärt werden können. Doch in der heutigen dynamischen Wirtschaft geraten die Grundlagen dieser Partnerschaft ins Wanken, da sich die Rahmenbedingungen für die Verhandlungen grundlegend verändern.

Die Unruhe wächst – Warum die Vereinbarungen auf der Kippe stehen

Die wirtschaftliche Landschaft der Schweiz hat sich in den letzten Jahren drastisch verändert. Die wachsende Zahl von Klein- und Mikrounternehmen, auch Ich-AG oder Ich-GmbH genannt, die häufig weniger als zehn Mitarbeitende beschäftigen, stellt eine erhebliche Herausforderung für die Arbeitgeberverbände dar. Diese Organisationen müssen genügend Mitglieder gewinnen, um zwingend die Schwellenwerte für allgemeinverbindliche Arbeitsverträge zu erfüllen.

Diese Verträge sind nämlich von entscheidender Bedeutung, da sie die Bedingungen für die Branchen standardisieren und somit Stabilität und Fairness gewährleisten. Scheitern die Verbände an der Erfüllung dieser Kriterien, könnte dies schwere Folgen für die betroffenen Wirtschaftszweige haben, da die Wettbewerbsgleichheit schleichend untergraben wird und dadurch potenziell chaotische Bedingungen entstehen.

Das Dilemma der Quoren – Wenn die Zahlen nicht mehr stimmen

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Der Begriff Quorum ist in diesem Bereich wichtig. Was bedeutet er? Unter Quorum versteht man die Anzahl Stimmen, die erreicht sein muss, damit eine Wahl oder Abstimmung Gültigkeit erlangt.

Die gesetzlichen Anforderungen, die erfüllt sein müssen, um einen GAV (Gesamtarbeitsvertrag)  allgemeinverbindlich zu machen, basieren auf der Erfüllung bestimmter Quoren wie folgt:

  • Quorum 1: Mehr als die Hälfte aller Firmen müssen zwingend im Verband organisiert sein, der den Gesamtarbeitsvertrag (GAV) ausgehandelt hat.
  • Quorum 2: Diese Firmen müssen mehr als die Hälfte aller Mitarbeitenden beschäftigen (sogenanntes gemischtes Quorum)
  • Quorum 3: Mehr als die Hälfte der Angestellten der jeweiligen Branche müssen bei den mitunterzeichnenden Gewerkschaften organisiert sein

Die Realität zeigt jedoch, dass viele Arbeitgeberverbände Schwierigkeiten haben, die erforderliche Anzahl von Mitgliedern zu gewinnen, während gleichzeitig die Gewerkschaften mit einer wachsenden Schrumpfung der Mitgliederzahlen zu kämpfen haben. Diese Probleme bedrohen die Stabilität des gesamten Systems. Es wird immer schwieriger, die nötigen Mehrheiten zu organisieren, was dazu führt, dass die Legitimation und die Durchsetzungskraft dieser Verträge in Frage gestellt werden.

Das Drama der kleinen Betriebe – Warum Mikrounternehmen das System gefährden

Die Zahl der Klein- und Mikrounternehmen in der Schweiz wächst rasant, insbesondere in Branchen mit niedrigen Eintrittsbarrieren. Die Coiffeur-, Plattenleger-, Maler- und Reinigungsbranchen verzeichnen einen starken Anstieg neuer Unternehmen. Diese Kleinbetriebe sehen oft keinen Nutzen darin, sich traditionellen Branchenverbänden anzuschliessen.

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Die wirtschaftlichen Eintrittsbarrieren sind in diesen Branchen geringer als in anderen. Die Kosten und der Aufwand für die Mitgliedschaft in einem Verband scheinen für viele nicht gerechtfertigt. Diese Entwicklung stellt eine erhebliche Herausforderung dar, da die notwendige Unterstützung für die Quoren, die für die Allgemeinverbindlichkeit der GAV erforderlich sind, zunehmend schwer zu erreichen ist. Ohne diese Unterstützung drohen die Verhandlungen an Gewicht zu verlieren, und die Branchen laufen Gefahr, in einem Zustand von Ungleichheit und Unsicherheit zu enden.

Ausländische Konkurrenz und der Schutz des heimischen Marktes

Mit der zunehmenden Migration nach und innerhalb der Schweiz wurden viele neue Unternehmen gegründet, die oft unter prekären Bedingungen arbeiten. Diese Konkurrenz hat den Druck auf den Schweizer Arbeitsmarkt verstärkt. In diesem Kontext bieten allgemeinverbindliche GAVs einen entscheidenden Schutz. Sie setzen Mindestlöhne fest, die auch für ausländische Unternehmen gelten, wenn sie in der Schweiz tätig werden.

Diese Massnahme schützt den Schweizer Werkplatz vor unfairem Wettbewerb und hilft, die Arbeitsbedingungen auf einem gerechten Niveau zu halten. Für viele Branchen sind diese Verträge ein unverzichtbares Werkzeug, um den Herausforderungen eines globalisierten Marktes zu begegnen und die lokale Wirtschaft zu schützen.

Die politische Debatte – Zwischen Ordnung und Pragmatismus

In der politischen Arena der Schweiz entfaltet sich im Moment eine intensive Debatte darüber, ob die bestehenden Quoren angepasst werden sollten, um den aktuellen wirtschaftlichen Herausforderungen gerecht zu werden. Einige politische Akteure:innen argumentieren, dass eine Lockerung der Quoren notwendig sei, um mehr Flexibilität und Anpassungsfähigkeit in das System zu bringen.

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Andere hingegen warnen davor, dass solche Massnahmen die Stabilität des Arbeitsmarktes gefährden könnten. Die Diskussion dreht sich um die Frage, ob die Ausnahmegenehmigungen, die derzeit bei fast der Hälfte der allgemeinen Erklärungen bestehen, aufrechterhalten oder eingeschränkt werden sollten. Diese Auseinandersetzung zwischen Ordnungspolitik und pragmatischer Anpassung zeigt die tiefe Kluft zwischen unterschiedlichen politischen und wirtschaftlichen Interessen.

Eine ungewisse Zukunft

Die Zukunft der Gesamtarbeitsverträge in der Schweiz steht auf dem Spiel. Die anhaltende Debatte über die Quoren und die sich ständig verändernden wirtschaftlichen Rahmenbedingungen werden zeigen, ob die Sozialpartnerschaft in ihrer bisherigen Form bestehen bleiben kann.

Die Entscheidungen, die in den kommenden Monaten und Jahren getroffen werden, werden weitreichende Konsequenzen für das gesamte Arbeits- und Wirtschaftssystem der Schweiz haben. Es bleibt abzuwarten, ob die Schweiz den Balanceakt zwischen bewährten Strukturen und notwendiger Anpassung meistern kann, um eine faire und stabile Arbeitsumgebung für alle Beteiligten zu gewährleisten.