Karriere oder Knochenjob? Handwerksberufe müssen dringend aufgewertet werden.
Die Berufswahl scheint auf den ersten Blick eine Frage des individuellen Geschmacks, der Talente oder Interessen zu sein. Doch heute zeigt sich: Immer stärker wird die Wahl durch Prestige, Statusdenken und den Drang nach sozialer Anerkennung beeinflusst.
Unsere Arbeitswelt läuft Gefahr, eine wertvolle Balance zu verlieren – die Balance zwischen handwerklich-technischen und akademisch-theoretischen Berufen. Die Konsequenzen dieser Entwicklung sind tiefgreifend, denn sie betreffen nicht nur die beruflichen Wege Einzelner, sondern die gesamte Arbeitswelt und letztlich die gesellschaftliche Stabilität.
Prestige als Triebkraft und die Illusion der beruflichen ‘Echtheit’
Früher war die Berufswahl oft von pragmatischen Erwägungen geprägt: Wer bestimmte Fähigkeiten oder Neigungen hatte, wählte ein dazu passendes Handwerk oder eine Lehrstelle. Heute scheint der Beruf weniger als persönlicher Weg, sondern mehr als ‘gesellschaftliches Etikett’ wahrgenommen zu werden. Jugendliche erleben die Wahl des Berufs oft als eine Art Wettbewerb, in dem sie beweisen müssen, dass sie es ‘geschafft’ haben. Ein Image als ‘weniger wertvoll’ – wie es vielen Handwerksberufen anhaftet – scheint dabei tunlichst zu vermeiden.
Die Vorstellung, dass ein erfolgreicher Lebensweg durch einen akademischen Werdegang definiert ist, hat sich dabei in den Köpfen vieler Eltern und Jugendlicher festgesetzt. Eltern betrachten den beruflichen Erfolg der Kinder oft als Spiegel ihres eigenen gesellschaftlichen Ansehens und ihrer Fähigkeit, die ’richtige Erziehung’ zu gewährleisten. So wird der Beruf nicht nur zum Selbstwertfaktor, sondern zunehmend zur Massnahme elterlicher Selbstdarstellung.
Jugendliche orientieren sich an solchen Wertvorstellungen, nicht zuletzt durch die sozialen Medien, und wählen dementsprechend Berufe, die in diesen Vergleichswerten höher rangieren. Doch was sagt das über den Wert eines Berufs, wenn er nicht nach eigenen Neigungen, sondern nach gesellschaftlichen Erwartungen gewählt wird?
Beispiele aus dem Alltag: Die unterschätzte Vielfalt der Berufe
Nehmen wir als Beispiel eine Schreinerei, die seit Jahrzehnten in einer kleinen Gemeinde angesiedelt ist. Der Schreinermeister hat das Handwerk von seinem Vater übernommen und ist tief mit der Region verbunden. Seine Arbeit ist angesehen, aber er bemerkt, dass kaum junge Leute sich für eine Ausbildung in der Werkstatt interessieren. Eltern und Lehrer raten den Jugendlichen eher, sich für Berufe im Finanzwesen, in der IT oder im Gesundheitsbereich zu interessieren. In der Folge werden viele Ausbildungsplätze nicht mehr besetzt, und der Schreiner muss junge Leute aus dem Ausland anwerben, die die handwerkliche Tradition fortführen. Dies kostet Zeit und Ressourcen, die eigentlich in die Arbeit investiert werden könnten.
Ein weiteres Beispiel sind die Berufsfelder im Bauwesen, etwa bei Maurern, Elektrikern oder Sanitärinstallateuren. Diese Berufe sind essenziell, um die Infrastruktur am Laufen zu halten und bauen die Grundlage für jedes moderne Gebäude. Dennoch entscheiden sich immer weniger junge Menschen für diese ’blue-collar’-Jobs, weil sie als anstrengend und statusarm wahrgenommen werden. Die Folge: Die Nachfrage nach Bauarbeitern steigt, aber das Angebot sinkt. In Ländern wie Deutschland oder der Schweiz verzeichnen Bauunternehmen bereits erhebliche Engpässe bei Fachkräften – und dies führt dazu, dass Projekte teurer und verzögert werden. Die Infrastruktur einer Gesellschaft hängt aber nicht an Bürojobs; sie hängt an denen, die diese Infrastruktur bauen und erhalten.
Konsequenzen der Einseitigkeit: Eine Gesellschaft am Scheideweg
Die Fokussierung auf prestigeträchtige Berufe und akademische Laufbahnen hat weitreichende Konsequenzen. Die steigende Akademisierung des Arbeitsmarkts führt dazu, dass immer mehr Menschen mit Hochschulabschlüssen auf Stellen treffen, für die ihre Ausbildung überqualifiziert ist. Dies senkt nicht nur die Zufriedenheit, sondern fördert auch ein Gefühl der beruflichen Sinnentleerung und – für viele – der Frustration. Die Erkenntnis, dass der ‘prestigeträchtige’ Weg nicht unbedingt zum erfüllten Berufsleben führt, erlangen viele erst nach Jahren der akademischen Laufbahn.
Dabei zeigt sich: Unsere Gesellschaft basiert auf der Leistung verschiedenster Berufszweige, die unterschiedliche Fähigkeiten und Neigungen erfordern. Wenn handwerkliche Berufe immer weniger angesehen sind, werden sie zunehmend unbesetzt bleiben, was zu einer strukturellen Schwächung wichtiger Wirtschaftszweige führt. Die steigende Nachfrage nach Bau- und Handwerksdienstleistungen wird nicht mehr bedient, was die Preise in diesen Bereichen in die Höhe treibt und grundlegende Dienstleistungen für die Bevölkerung erschwert. Letztlich steht damit die Frage im Raum, wie lange unsere Gesellschaft eine immer grössere Kluft zwischen Prestige und Notwendigkeit aufrechterhalten kann, ohne ernsthafte Funktionsprobleme zu erleiden.
Soziale Medien als Multiplikatoren der Prestige-Kultur
Ein zentraler Faktor dieser Entwicklung ist die Rolle der sozialen Medien. Jugendliche erleben dort täglich den subtilen Druck, ihre Berufswahl als ‘schick’ oder ‘angesagt’ zu präsentieren. Die sozialen Medien verengen den Blick auf bestimmte Karrierewege und führen dazu, dass das Image eines Berufs oftmals das Entscheidende ist – nicht, ob er zu den Fähigkeiten oder Interessen eines Jugendlichen passt.
Beispielsweise wird eine junge Frau, die den Beruf der Strassenbauerin anstrebt, kaum positive Reaktionen erfahren, wenn sie dies auf einer Plattform wie Instagram verkündet. Die Wahrnehmung auf diesen Plattformen diktiert so oft eine Art Berufs-‘Hackordnung’, die mit der Realität wenig zu tun hat und dadurch frustrierte junge Menschen zurücklässt, die in einen Beruf ohne innere Identifikation gedrängt wurden.
Die bildungspolitische Verantwortung und mögliche Lösungsansätze
Ein entscheidender Hebel liegt in der Bildungspolitik. Um die Vielfalt in der Berufswahl zu stärken, bedarf es einer umfassenden Umstrukturierung der Berufsorientierung. Hier könnte etwa ein modulares System etabliert werden, das Schülern den Zugang zu verschiedenen Berufsfeldern öffnet, bevor sie eine endgültige Entscheidung treffen müssen. Begegnungen mit erfolgreichen Handwerkern, die ihre Berufung authentisch und leidenschaftlich leben, könnten hier eine Rolle spielen.
In der Schweiz haben Veranstaltungen wie die SwissSkills, bei denen Jugendliche ihre Fähigkeiten in verschiedenen handwerklichen Disziplinen unter Beweis stellen, bereits erste positive Effekte erzielt. Solche Plattformen tragen dazu bei, den Ruf handwerklicher Berufe zu verbessern und zeigen, dass auch der Bau oder das Handwerk eine Karriere sein kann – und zwar eine, die sinnstiftend und erfüllend ist.
Ein zweiter Ansatzpunkt wäre die Umgestaltung der Berufsberatung: Anstatt lediglich Berufe aufgrund von standardisierten Tests vorzuschlagen, könnte eine intensivere Auseinandersetzung mit sozialen Werten, eigenen Stärken und Berufsbildern aus dem gesamten Spektrum gefördert werden. Durch Begegnungen und Praktika, die nicht nur für ein, sondern mehrere Berufsfelder angeboten werden, kann ein Verständnis für die Vielfalt der Möglichkeiten entwickelt werden.
Perspektivwechsel: Neue Wertschätzung für alle Berufsbilder
Am Ende steht die Frage: Können wir es uns leisten, Berufe wie Metzger, Maurer oder Maler abwertend zu betrachten? Gesellschaftliche und wirtschaftliche Stabilität beruhen auf einer funktionierenden Infrastruktur und einem florierenden Handwerkssektor. Statt nur auf ein Akademisierungsziel hinzusteuern, sollte die Berufswahl junger Menschen als das verstanden werden, was sie wirklich ist: eine Chance, sowohl ihren Neigungen zu folgen als auch wertvolle Beiträge zur Gesellschaft zu leisten.
Berufsbilder sollten nicht durch Prestige, sondern durch ihre Bedeutung und den persönlichen Wert für jeden Einzelnen definiert werden.
Eine gesellschaftliche Umorientierung in der Berufswahl bedeutet langfristig, wieder mehr auf das Zusammenspiel zwischen ‘blauen und weissen Berufen’ zu achten und diesen Berufen ihren wertvollen Platz zurückzugeben. Nur so schaffen wir eine Zukunft, in der berufliche Vielfalt nicht als Mangel, sondern als Reichtum verstanden wird – ein Reichtum, den wir für eine stabile und funktionierende Gesellschaft dringend benötigen.