Jan. 16

Arbeitsrecht: Stempeln Sie aus, bevor sie auf’s WC gehen?

Author: PersonalRadar

Das kantonale Gericht Neuenburg hat am 27. Juni 2024 ein Urteil gefällt, das für Arbeitgebende und HR-Verantwortliche in der Schweiz wegweisend ist, aber bis anhin noch nicht viel Aufmerksamkeit erhielt.

Im Kern ging es um die Frage, ob ein Unternehmen das Stempeln von Toilettenpausen verlangen darf – eine Praxis, die auf den ersten Blick effizient, konsequent und nachvollziehbar erscheinen mag, jedoch die arbeitsrechtlichen und gesundheitlichen Grenzen mehr als deutlich überschreitet.

Der Sachverhalt

(Bildquelle: www.freepik.com)

Eine renommierte Uhrenmanufaktur im Kanton Neuenburg hatte 2021 eingeführt, dass alle Arbeitsunterbrechungen, einschliesslich Toilettengänge, durch Mitarbeitende mittels Stempeluhr strikt zu erfassen sind. Das Unternehmen argumentierte, diese Massnahme diene der Gleichbehandlung und der Verhinderung von Missbrauch.

Nach einer Prüfung durch das Amt für Arbeitsbedingungen (ORCT = Office des relations et des conditions de travail) kam jedoch die Einschätzung, dass diese Regelung sowohl gegen die Persönlichkeitsrechte der Angestellten als auch gegen arbeitsrechtliche Vorschriften verstosse. Insbesondere wurde bemängelt, dass diese Praxis die Gesundheit der Mitarbeitenden gefährden könnte, da sie Druck ausübt, Toilettengänge zu minimieren oder einfache weniger zu trinken.

Das Unternehmen widersetzte sich der Anweisung des ORCT, die Regelung aufzuheben, und berief sich keck auf die Freiheit, betriebliche Abläufe eigenständig zu gestalten. Der Fall landete schliesslich vor Gericht.

Die juristische Einordnung

Das Gericht stützte sich auf das Arbeitsgesetz (ArG) sowie die zugehörigen Verordnungen. Besonders relevant war Artikel 6 ArG, der den Schutz der persönlichen Integrität der Mitarbeitenden und die Förderung ihrer Gesundheit vorschreibt.

Toilettenpausen sind als physiologischer Bedarf keine Pausen im Sinne von Artikel 15 ArG, sondern Teil der notwendigen Arbeitszeitgestaltung, die nicht zu einer Belastung der Mitarbeitenden führen darf.

Darüber hinaus betonte das Gericht, dass der Arbeitgeber gemäss Artikel 27 der Bundesverfassung verpflichtet ist, die wirtschaftliche Freiheit in Einklang mit der persönlichen Freiheit der Mitarbeitenden zu bringen. Es wurde deutlich gemacht, dass Regelungen wie das Stempeln von Toilettengängen unverhältnismässig sind und keinen gerechtfertigten Mehrwert bieten.

Die Praxis des Stempelns wurde zudem als diskriminierend bewertet. Das Gericht hob hervor, dass Frauen durch diese Regelung aufgrund menstruationsbedingter Bedürfnisse indirekt benachteiligt werden könnten. Dies widerspricht Artikel 8 der Bundesverfassung sowie der Gleichstellungsgesetzgebung (GlG), die eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts untersagt.

Der Entscheid

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Das Gericht kam zu dem Schluss, dass die Stempelpraxis rechtswidrig ist. Es begründete dies mit folgenden zentralen Punkten:

  1. Persönlichkeitsschutz: Die Erfassung von Toilettenpausen verletzt die Persönlichkeitsrechte der Mitarbeitenden gemäss Artikel 6 ArG.
  2. Gesundheitsschutz: Die Praxis birgt das Risiko, dass Mitarbeitende aus Angst vor Konsequenzen weniger trinken oder Toilettengänge vermeiden, was zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen führen kann.
  3. Diskriminierungsfreiheit: Frauen würden indirekt benachteiligt, was gegen die Verfassung und das Gleichstellungsgesetz verstösst.
  4. Fehlende Verhältnismässigkeit: Die vorgeschobenen Argumente des Unternehmens wiegen nicht schwer genug, um die persönlichen Rechte und den Gesundheitsschutz der Mitarbeitenden einzuschränken.

Schlussfolgerung

Dieses Urteil ist eine klare Botschaft für alle Unternehmen: Effizienzmassnahmen müssen immer mit den rechtlichen und menschlichen Anforderungen vereinbar sein. Regelungen, die die Persönlichkeitsrechte oder die Gesundheit der Mitarbeitenden tangieren, sollten nicht nur sorgfältig geprüft, sondern im Zweifelsfall zugunsten der Mitarbeitenden angepasst werden.

Unternehmensleitungen oder HR-Abteilungen sind in der Verantwortung, Massnahmen nicht nur durch die Brille der Kostenkontrolle zu betrachten, sondern auch die langfristigen Auswirkungen auf das Betriebsklima und die Zufriedenheit der Mitarbeitenden zu berücksichtigen.

Das Urteil zeigt klar auf: Kontrolle hat Grenzen. Arbeitgebende sollten die Gelegenheit nutzen, um ihre internen Richtlinien kritisch zu überdenken und sicherzustellen, dass sie sowohl rechtskonform als auch fair sind. Respekt und Vertrauen bilden die Grundlage für eine produktive Arbeitskultur – und letztlich auch für den Erfolg des Unternehmens.

Gerichtsurteil und Gesetzestexte

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