‘Wir melden uns’ – Die grösste Lüge im Recruiting?
Es wird viel über den Fachkräftemangel und die Herausforderungen bei der Personalsuche gejammert. Unternehmen klagen darüber, dass qualifizierte Bewerbende fehlen, während Arbeitnehmende berichten, dass sie oft wochenlang auf Rückmeldungen zu Bewerbungen warten – und in vielen Fällen gar keine Antwort mehr erhalten.
Dieses Phänomen, bekannt als ‘Job-Ghosting’, ist nicht nur frustrierend, sondern ein ernsthaftes Zeichen für strukturelle Defizite in der Unternehmenskultur. Wer Bewerbende nach Vorstellungsgesprächen oder Bewerbungen ohne jede Reaktion im Ungewissen lässt, zeigt ein tiefes Desinteresse am Menschen und nimmt wirtschaftliche sowie psychologische Schäden in Kauf.
Ghosting ist dabei kein harmloses Versehen, sondern eine symptomatische Erscheinung einer zunehmenden Entfremdung zwischen Unternehmen und Arbeitnehmenden. In einer Arbeitsmarktepoche, in der Employer Branding und Fachkräftesicherung an Bedeutung gewinnen, ist es paradox, dass viele Firmen Bewerbende durch Desinteresse und mangelnde Kommunikation verlieren.
Doch welche tiefgreifenden Folgen hat dieses Verhalten? Welche langfristigen Schäden erleiden nicht nur Bewerber, sondern auch Unternehmen? Und wie kann das gestoppt werden?
Psychologische Auswirkungen: Das emotionale Dilemma der Bewerbenden
Bewerbungsprozesse sind für viele Kandidat:innen eine emotionale Achterbahnfahrt. Eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch erzeugt Hoffnung, Vorfreude und auch eine gewisse Anspannung. Bleibt nach einem Gespräch jegliche Rückmeldung aus, setzt eine Unsicherheit ein, die schwer zu ertragen ist.
Viele Bewerber quälen sich mit Fragen wie: ‘War ich nicht gut genug? Habe ich einen Fehler gemacht? Warum bekomme ich keine Antwort?’ Diese Unklarheit löst Stress aus, kann das Selbstwertgefühl untergraben und führt zu einem Gefühl der Machtlosigkeit. Besonders für junge Arbeitssuchende, Quereinsteiger:innen oder Langzeitarbeitslose kann Ghosting zu einem ernsthaften mentalen Problem werden. Die fehlende Kommunikation lässt sie in einer Unsicherheit zurück, die sich auf ihre Motivation und ihr Vertrauen in den Arbeitsmarkt auswirkt.
Ein weiterer psychologischer Aspekt ist die tiefgreifende Frustration, die sich über die Zeit aufbaut. Bewerber, die mehrfach ohne Rückmeldung bleiben, verlieren das Vertrauen in Unternehmen und fühlen sich wie eine belanglose Nummer in einem anonymen Bewerbungsprozess. Diese Entmenschlichung hat langfristige Folgen: Ein Bewerber, der sich ignoriert fühlt, wird sich kaum mehr mit einer Firma identifizieren oder dort jemals arbeiten wollen.
Ghosting schafft eine emotionale Distanz zwischen Unternehmen und potenziellen Mitarbeitenden – mit fatalen Konsequenzen für die Attraktivität des Arbeitgebers.
Noch dramatischer sind die Folgen für jene, die ohnehin mit psychischen Belastungen kämpfen. Menschen, die beispielsweise von einer beruflichen Neuorientierung abhängig sind oder sich in finanziellen Schwierigkeiten befinden, können durch das ausbleibende Feedback in eine tiefe Krise geraten. Die mangelnde Kommunikation signalisiert eine schädigende Geringschätzung, die langfristig das Vertrauen in den gesamten Arbeitsmarkt erschüttert.
Wirtschaftliche Schäden: Die unterschätzten Kosten von Ghosting
Viele Unternehmen realisieren nicht, dass sie sich durch Ghosting selbst schaden. Der erste und offensichtlichste Schaden ist der Reputationsverlust. Bewertungsplattformen wie Kununu, Glassdoor oder LinkedIn sind randvoll mit Berichten über schlechte Erfahrungen mit Bewerbungsprozessen. Solche Bewertungen werden von zukünftigen Kandidaten gelesen – und abschreckend wirken. Firmen, die regelmässig als unprofessionell oder respektlos wahrgenommen werden, verlieren auf lange Sicht an Attraktivität und ziehen immer weniger Top-Talente an.
Neben dem Imageschaden kommt es zu direkten finanziellen Einbussen. Recruiting ist ein aufwendiger Prozess: Von der Stellenausschreibung über die Vorauswahl bis hin zu den Interviews wird viel Zeit und Geld investiert. Wenn Unternehmen sich dann nicht mehr bei Bewerbenden melden, war dieser gesamte Aufwand umsonst.
Noch schwerwiegender: Hochqualifizierte Kandidat:innen, die aufgrund von Ghosting das Interesse verlieren, könnten die perfekten Fachkräfte für das Unternehmen gewesen sein. Doch stattdessen landen sie bei der Konkurrenz.
Ein weiteres Problem: Unzufriedene Bewerbende sprechen über ihre negativen Erfahrungen – sei es im Freundeskreis, in sozialen Medien oder in beruflichen Netzwerken. Diese Mundpropaganda hat oft eine superstarke Wirkung, die im Nu jede teure Employer-Branding-Kampagne zunichtemacht. Wer als Arbeitgeber den Ruf erlangt, Bewerbende schlecht zu behandeln, wird es immer schwerer haben, qualifizierte Mitarbeitende zu gewinnen. Besonders in Zeiten des Arbeitskräftemangels ist es ein riskantes Spiel, potenzielle Talente einfach zu ignorieren.
Zudem werden Unternehmen durch Ghosting zunehmend ineffizient. Indem sie qualifizierte Fachkräfte verprellen und langfristig ihren Talent-Pool verringern, gefährden sie ihre eigene Innovationsfähigkeit. Langwierige Rekrutierungsprozesse, steigende Kosten durch erfolglose Stellenausschreibungen und interne Kapazitätsprobleme sind die unausweichliche Folge.
Lösungen? Ja! Wie Unternehmen ihre Prozesse verbessern können
Ein wertschätzender Umgang mit Bewerbenden ist nicht nur eine Frage der Höflichkeit, sondern eine wichtige strategische Entscheidung. Unternehmen, die klare Rückmeldungen geben, profitieren langfristig von einem besseren Ruf und einer stärkeren Mitarbeiterbindung. Die Lösung liegt in einfachen, aber wirkungsvollen Massnahmen:
- Automatisierte, aber personalisierte Absagen: Standardisierte Massenmails mit Floskeln wie ‘Wir haben uns für einen anderen Kandidaten entschieden’ hinterlassen einen faden Beigeschmack. Stattdessen können personalisierte Absagen mit konkretem Feedback eine positivere Erfahrung schaffen.
- Klare Kommunikation: Unternehmen sollten ihre Bewerbungsprozesse transparent gestalten und Bewerbende aktiv über den Stand ihrer Bewerbung informieren.
- Sensibilisierung von HR-Teams: Personalverantwortliche müssen verstehen, dass Ghosting nicht nur Bewerbende verärgert, sondern auch dem Unternehmen schadet.
Letztlich geht es um Respekt und Professionalität. Wer Bewerbende fair behandelt, sendet ein starkes Signal über die Unternehmenskultur aus – und sichert sich die besten Talente.
Ghosting als ernsthaftes Risiko für Unternehmen
Job-Ghosting ist kein harmloses Zeitphänomen, sondern eine um sich greifende Praxis mit weitreichenden Konsequenzen. Es schadet Bewerbenden psychologisch, Unternehmen auf wirtschaftlicher Ebene und dem gesamten Arbeitsmarkt durch ein zunehmendes Misstrauen. Firmen, die auf langfristigen Erfolg setzen, sollten sich von dieser respektlosen Praxis verabschieden – und Bewerbende als das behandeln, was sie sind: Menschen, die eine ehrliche Antwort verdient haben. Nicht mehr und nicht weniger. Punkt.