Warum werden immer die Falschen befördert?
‘Sie oder er arbeitet hart. Ist immer pünktlich. Macht Überstunden. Sagt nie nein.’ Für viele Entscheidungsträger:innen klingt das wie Musik in den Ohren – und leider auch wie ein innerer Entscheidungsalgorithmus: ‘Diese Person ist bereit für mehr Verantwortung. Punkt.’
Doch mehr Verantwortung heisst nicht automatisch: Führung. Und schon gar nicht: gute Führung. Dieses Missverständnis ist nicht neu, aber noch immer weit verbreitet – mit gravierenden Folgen für Mitarbeitende, Unternehmenskultur und letztlich auch die Gesellschaft.
Die stille Belohnung des Angepassten
Organisationen neigen seit jeher dazu, genau jene Menschen zu fördern, die sich reibungslos in das bestehende System einfügen, es nicht hinterfragen – geschweige denn herausfordern. Befördert wird, wer fleissig ist, zuverlässig seine Aufgaben erfüllt, keine Konflikte provoziert und nie unangenehme Fragen stellt. Wer den Status quo respektiert, wird belohnt – oft nicht spektakulär, sondern leise, schleichend: mit mehr Verantwortung, mehr Gehalt, mehr Einfluss. Diese stille Belohnungslogik wirkt unscheinbar, ist jedoch tief verankert im kollektiven Bewusstsein von Unternehmen – meist unbewusst, aber hochwirksam.
Denn solche Mitarbeitenden gelten als verlässlich, und Verlässlichkeit wird – besonders in hierarchisch strukturierten Organisationen – allzu oft mit Führungsqualität gleichgesetzt. Dabei wird übersehen, dass Verlässlichkeit nicht notwendigerweise Innovationskraft, Reflexionsvermögen oder strategische Weitsicht bedeutet. Das stille Einverständnis, das solche Personen ausstrahlen, wird als Loyalität interpretiert, ihr Schweigen als Souveränität, ihr Gehorsam als Teamgeist. In Wahrheit jedoch handelt es sich oft um Anpassung aus Kalkül oder Angst – nicht aus Überzeugung.
Diese Denkweise entspringt einer tief verwurzelten, bürokratischen Logik, wie sie der Soziologe Max Weber bereits Anfang des 20. Jahrhunderts beschrieb: Organisationen wurden als präzise Maschinen verstanden, in denen Menschen Zahnräder sind. Jedes Rädchen hat seine definierte Funktion. Es geht um Effizienz, Planbarkeit, Regeltreue. In diesem Kontext galt Führung nicht als visionäre Kraft, sondern einfach als verlängerter Arm der Ordnung: Prozesse verwalten, Abläufe sichern, Regeln einhalten. Kreative Irritationen galten als Störung – nicht als Chance.
Doch diese alte Führungslogik bröckelt. Heute befinden wir uns in einer disruptiven Arbeitswelt, die von Unbeständigkeit, wachsender Komplexität und permanentem Wandel geprägt ist. Globalisierung, Digitalisierung, Klimakrise, gesellschaftlicher Wertewandel – all das verändert nicht nur die Märkte, sondern auch die Anforderungen an Organisationen und ihre Führungskräfte. In dieser Realität versagt das alte Modell der stillen Belohnung. Denn Anpassung wird plötzlich zur Schwäche. Wer keine Fragen stellt, wird blind für Risiken. Wer nicht aneckt, bringt keine neuen Ideen. Wer nur loyal funktioniert, verhindert Entwicklung.
Trotzdem halten viele Unternehmen weiterhin an dieser leisen Belohnungskultur fest – aus Gewohnheit, Bequemlichkeit oder Angst vor Kontrollverlust. Doch das ist gefährlich. Denn wer nur angepasste Führungskräfte aufsteigen lässt, produziert Systeme, die sich selbst lähmen. Die echten Gamechanger, die Unbequemen, die Lautdenkenden – sie gehen oft früh oder bleiben frustriert. Damit verliert eine Organisation genau das, was sie in einer komplexen Zukunft am dringendsten braucht: mutige, kreative, querdenkende Köpfe, die das System nicht nur bedienen, sondern frech in Frage stellen weiterentwickeln wollen.
Arbeitspsychologische Grundlagen: Warum Fleiss nicht reicht
In der modernen Arbeitspsychologie ist es längst kein Geheimnis mehr: Hohe operative Leistung und echte Führungskompetenz sind zwei völlig unterschiedliche Qualitäten. Dennoch wird in vielen Organisationen noch immer der Irrglaube gepflegt, dass wer fachlich brilliert, automatisch zur Führungskraft tauge. Dabei verlangt operative Exzellenz primär eine starke Sachorientierung, eine Fähigkeit zur effizienten Abarbeitung definierter Aufgaben. Führung hingegen ist eine gänzlich andere Disziplin – sie verlangt emotionale Reife, soziale Weitsicht und die Fähigkeit, in unklaren, konflikthaften Situationen Orientierung zu geben.
Die Kernfähigkeiten moderner Führung lassen sich nicht mit Checklisten oder klassischen Leistungsindikatoren messen. Sie zeigen sich vielmehr im Verhalten unter Druck, im Umgang mit Unsicherheit, in der Art, wie Menschen inspiriert und mitgenommen werden. Dazu zählen insbesondere:
- Selbstreflexion: Die Fähigkeit, sich selbst kritisch zu hinterfragen, eigene Anteile am Geschehen zu erkennen und offen für Feedback zu bleiben.
- Konflikt- und Ambiguitätstoleranz: Nicht jede Spannung muss aufgelöst, nicht jede Unklarheit beseitigt werden – gute Führungskräfte können Widersprüche aushalten.
- Fähigkeit zur Vertrauensbildung: Wer führen will, muss Vertrauen ermöglichen – durch Verlässlichkeit, Transparenz und Menschlichkeit.
- Werteorientierung und ethische Entscheidungsfähigkeit: Entscheidungen müssen nicht nur effektiv, sondern auch verantwortungsvoll getroffen werden – auch gegen den kurzfristigen Profit.
- Emotionale Intelligenz und Beziehungsarbeit: Es geht darum, Menschen zu verstehen, zwischen den Zeilen zu lesen und empathisch auf Situationen einzugehen.
- Strategische Denk- und Wandlungsfähigkeit: Der Blick fürs Grosse und Ganze, gepaart mit dem Mut, Altbewährtes zu hinterfragen und Wandel aktiv zu gestalten.
All diese Fähigkeiten lassen sich nicht einfach in Excel-Tabellen abbilden oder mit KPIs metrisch bewerten. Sie sind unbequem. Denn wer so denkt und handelt, wird zwangsläufig auch unbequeme Fragen stellen, Fehlentwicklungen offen ansprechen, Konflikte nicht scheuen. Menschen mit echter Führungskompetenz sind keine Ja-Sager – sie sind Reibungsflächen. Sie bringen neue Perspektiven ein, fordern ihre Umgebung intellektuell heraus und sind bereit, Risiken einzugehen. Genau das macht sie zu starken Führungspersönlichkeiten.
Und gleichzeitig zu jenen, die in harmoniesüchtigen oder hierarchisch erstarrten Organisationen oft als Störfaktor gelten. Denn dort wird Loyalität mit Unterordnung gleichgesetzt, Kritik mit Illoyalität verwechselt, und wer sich nicht bedingungslos ins System einfügt, gilt schnell als illoyal oder unangepasst. Die Folge: Es steigen oft nicht die Fähigsten auf, sondern jene, die sich am besten anpassen – also genau jene, denen es an Reflexionsfähigkeit, Haltung und Transformationskraft mangelt.
Dabei bräuchte es heute, mehr denn je, Führungspersönlichkeiten, die den Mut haben, unbequem zu sein. Die nicht einfach nur den nächsten Quartalsbericht optimieren, sondern eine echte Zukunftsperspektive entwickeln. Die auch dann Haltung zeigen, wenn es schwierig wird. Und die bereit sind, sich selbst laufend weiterzuentwickeln – statt sich auf ihrem Fleiss und ihrer fachlichen Kompetenz auszuruhen.
Die ‘gute Führungskraft’ – ein Missverständnis
In zahlreichen Unternehmen – ob Konzern oder KMU – zeigt sich immer wieder das gleiche langweilige Muster: Wer seine operative Arbeit gut macht, wer verlässlich liefert, Fristen einhält und keine Probleme verursacht, wird früher oder später zur Führungskraft ernannt. Diese Annahme wirkt so plausibel wie bequem – und ist doch ein fundamentaler Denkfehler. Die Vorstellung, dass fachliche Exzellenz automatisch in soziale Führungskompetenz mündet, hat sich tief in unsere Karrierelogik eingebrannt. Sie beeinflusst Beförderungsentscheide, Laufbahnmodelle und Personalentwicklung – oft ohne jede kritische Prüfung.
Dabei ist dieser Irrglaube keineswegs neu. Bereits 1969 beschrieb Laurence J. Peter in seinem Buch das sogenannte Peter-Prinzip: Menschen werden in Hierarchien so lange befördert, bis sie die höchste Stufe ihrer Inkompetenz erreicht haben. Konkret bedeutet das: Eine Person, die in ihrer aktuellen Rolle brilliert, wird befördert – in der Hoffnung, dass sie auch auf der nächsten Ebene erfolgreich sein wird. Doch dort werden plötzlich völlig andere Fähigkeiten verlangt – insbesondere im Bereich Führung. Fehlen diese, bleibt die betroffene Person auf dieser Stufe hängen. Sie wird nicht weiter befördert, kann aber auch nicht zurück – eine Pattsituation mit oft fatalen wie auch tragischen Folgen.
So entstehen ganze Führungsetagen, die aus Menschen bestehen, die fachlich stark waren, aber menschlich überfordert sind. Die lieber Prozesse verwalten als Menschen entwickeln. Die Kontrolle höher gewichten als Vertrauen. Die zwischenmenschlichen Konflikten ausweichen oder sie mit autoritärem Verhalten ‘lösen’. Statt zu moderieren, eskalieren sie. Statt zu inspirieren, demotivieren sie. Und statt Orientierung zu geben, schaffen sie Verunsicherung.
Besonders auffällig ist in diesem Zusammenhang die Loyalitätsverlagerung: Viele dieser Führungskräfte orientieren sich nach oben – zur Geschäftsleitung oder zum Verwaltungsrat – und agieren nach unten mit Druck, Kontrolle und Erwartungshaltung. Das mittlere Management wird zum schlichten Transmissionsriemen für Ziele, die oft nicht hinterfragt werden dürfen. Anstatt als Brücke zwischen Belegschaft und Unternehmensführung zu fungieren, verkommen viele zur Druckverstärkerinstanz. Psychologisch betrachtet ist das eine hochriskante Dynamik: Vertrauen bröckelt, Motivation sinkt, Talente wandern ab.
Diese systemische Fehlbesetzung ist kein Einzelfall – sie ist strukturell. Sie ist das Resultat einer Karrierelogik, die Leistung mit Führung verwechselt, und einer Unternehmenskultur, die zu selten hinterfragt, welche Art von Führung heute wirklich gebraucht wird. Das Resultat ist eine fatale Stillstandsdynamik: Die ‘falschen’ Menschen sitzen an den ‘richtigen’ Hebeln und sorgen unbeabsichtigt dafür, dass genau jene, die für Wandel stehen könnten, nicht zum Zug kommen. Denn wer anders denkt, führt auch anders. Und wer anders führt, stört das vertraute System.
Umso dringlicher stellt sich die Frage: Warum evaluieren wir Führungskompetenz nicht viel systematischer und unabhängiger von bisherigen Rollen? Warum ist es in so vielen Organisationen einfacher, eine gute Fachkraft zur Führungskraft zu machen, als eine gute Führungskraft von aussen zu holen? Und warum hält sich das Bild der ‘guten Führungskraft’ so hartnäckig – obwohl wir längst wissen, dass Führung weit mehr ist als operative Exzellenz?
Das System schützt sich selbst
Organisationen – ganz gleich welcher Grösse oder Branche – neigen dazu, sich selbst zu stabilisieren. Sie entwickeln innere Abwehrmechanismen gegen Veränderung, besonders dann, wenn diese Veränderung von innen kommt. Das liegt nicht an einer böswilligen Absicht, sondern an einem psychologisch tief verankerten Prinzip: Systeme haben ein Eigeninteresse an ihrer Selbsterhaltung. Sie ‘wollen’ bestehen bleiben – strukturell, kulturell, personell. Und sie tun das, indem sie gezielt oder unbewusst jene belohnen, die ihnen ähnlich sind.
Wer befördert, orientiert sich oft an dem, was er oder sie kennt. Und vor allem: an dem, was sich in der Vergangenheit bewährt hat. Dieses Prinzip der Ähnlichkeitspräferenz wird in der Sozialpsychologie als Homosozialität bezeichnet: Menschen neigen dazu, anderen Menschen zu vertrauen, die ihnen in Herkunft, Denkweise, Auftreten oder Karriereweg ähneln. Im Kontext von Organisationen bedeutet das konkret: Wer bereits oben ist, fördert Menschen, die ticken wie er oder sie selbst. So entsteht eine stille Reproduktion des Bestehenden.
In patriarchal geprägten Strukturen bedeutet das oft:
- Männer fördern Männer
- In konservativen Unternehmenskulturen: Wer stillhält, wird belohnt
- In hierarchischen Organisationen: Loyalität schlägt Haltung
- Und in kontrollorientierten Systemen: Gehorsam schlägt Reflexion
Das Resultat: Führungsetagen, die homogen sind – nicht nur äusserlich, sondern vor allem im Denken, Handeln und Entscheiden.
Dieser Mechanismus hat einen hohen Preis. Denn genau jene Menschen, die das Potenzial hätten, Dinge wirklich zu verändern – kreative Querdenker:innen, ethisch reflektierte Gestalter:innen, unbequem ehrliche Kommunikator:innen –, bleiben schlicht auf der Strecke. Sie werden als ‘nicht teamfähig’ abgestempelt, als ‘noch nicht bereit’ oder – besonders perfide – als ‘zu kritisch für eine tragende Führungsrolle’. Was in Wahrheit bedeutet: Sie sind unbequem. Sie machen sichtbar, was nicht mehr funktioniert. Sie brechen mit Gewohnheiten. Sie stellen unbequeme Fragen, wo andere längst weggeschaut haben.
Dabei wären genau diese Menschen wertvoll. Denn sie bringen jene Impulse, die Organisationen in einem Umfeld voller Komplexität, Disruption und kulturellem Wandel so dringend brauchen. Doch das System erkennt ihren Wert nicht – oder will ihn nicht erkennen. Denn jede echte Veränderung birgt das Risiko, alte Sicherheiten zu verlieren. Und wer von der Stabilität des Systems profitiert, wird kaum freiwillig an dessen Fundament rütteln.
Hinzu kommt: Je weiter oben in der Hierarchie eine Person steht, desto grösser ist der Druck, die eigene Position abzusichern – politisch, symbolisch, wirtschaftlich und sozial. In solchen Kontexten ist es oft bequemer, ein vertrautes Spiel mit bekannten Mitspielenden weiterzuführen, als echte Vielfalt, Widerspruch und neue Denkansätze zuzulassen. Das ist keine Frage individueller Boshaftigkeit, sondern ein strukturelles Problem.
Kurz gesagt: Systeme befördern nicht zwingend die Besten – sie befördern die Passendsten. Und das bedeutet oft: die Angepassten. Die Folge ist eine schlichte Führungskultur, die Innovation bremst, Wandel verhindert und jene auflaufen lässt, die mehr könnten – wenn man sie nur endlich von der Leine liesse.
Der Preis der Konformität: Wenn Führung scheitert
Führung, die sich über Konformität und Systemtreue definiert, mag kurzfristig für Ruhe sorgen – langfristig jedoch hat sie einen hohen Preis. Denn schlechte Führung zeigt sich selten in spektakulären Skandalen. Sie wirkt langsam, leise, schleichend – aber ganz sicher zerstörerisch. Sie untergräbt das Fundament einer gesunden Organisation von innen. Wie ein schleichendes Gift macht sie sich zunächst unbemerkt breit, bis die Symptome unübersehbar werden – zu spät, um mit einfachen Mitteln gegenzusteuern.
Die ersten Anzeichen sind oft subtil:
- Motivationsverlust: Mitarbeitende verlieren den inneren Antrieb. Nicht, weil sie faul sind, sondern weil sie sich nicht gesehen, nicht verstanden, nicht gefördert fühlen. Wer ständig nur funktioniert, aber nie inspiriert wird, brennt innerlich aus. Engagement wird zur Routine, Neugier zur Gleichgültigkeit. Das Licht geht aus. Niemand findet den Schalter.
- Versteckte Kündigungen: Die besten Köpfe – jene mit Haltung, Ideen und Eigenverantwortung – ziehen leise die Konsequenzen. Sie kündigen innerlich oder verlassen das Unternehmen ganz. Und zwar nicht, weil die Aufgaben langweilig sind, sondern weil sie keine echte Führung erleben. Sie gehen nicht wegen der Arbeit – sie gehen wegen der Führung.
- Innovationsstau: In einer Kultur, in der Abweichung als Risiko gilt, entsteht keine Innovation. Ideen werden zwar eingefordert, aber nicht wirklich gewollt. Wer Neues denkt, stört den Betriebsfrieden. Wer Altbewährtes infrage stellt, gefährdet bestehende Machtverhältnisse. So versanden kreative Impulse – nicht aus Mangel an Talent, sondern aus Mangel an Resonanz.
- Silos, Lagerdenken und Grabenkämpfe: Statt Kooperation dominieren Konkurrenz und Besitzstandswahrung. Bereiche schotten sich ab, Wissen wird zurückgehalten, Verantwortung abgeschoben. Die Organisation zerfällt in Einzelinteressen – eine fragmentierte Struktur ohne gemeinsames Zielbild. Das Gebilde erodiert.
- Psychosoziale Belastung: Kontrolle ersetzt Vertrauen, Misstrauen wird zur Leitkultur. Führungspersonen, die sich ihrer Rolle nicht gewachsen fühlen, greifen zu autoritären Mitteln: Mikromanagement, Kontrolle, Schuldzuweisungen. Das erzeugt Angst – und Angst ist das Gegenteil von produktiver Energie. Die Folge: Krankheitsausfälle, innere Kündigung, stille Resignation.
Diese destruktiven Effekte kumulieren sich über Jahre hinweg. Was vielleicht einst ein quicklebendiger Organismus war, wird träge, verlangsamt, vorsichtig. Die Organisation verliert ihre Wandlungsfähigkeit – sie wird intern zersplittert und nach aussen irrelevant. Sie reagiert, statt zu agieren, verwaltet, statt zu gestalten. Und all das nur, weil man die falschen Menschen in Führung gebracht hat. Nicht die Unfähigen im klassischen Sinn – sondern jene, die zu angepasst, zu konfliktscheu, zu systemtreu sind. Menschen, die nicht führen, sondern verwalten. Die nicht inspirieren, sondern normieren. Die lieber Kontrolle ausüben, als Verantwortung zu teilen. Und genau damit machen sie langfristig das kaputt, was Unternehmen heute am dringendsten brauchen: Vertrauen, Mut und gemeinsame Richtung.
Die grosse Ironie dabei? Organisationen investieren ungeheuer viel Geld in Change-Management, Employer Branding und Innovationsprojekte – während sie gleichzeitig eine Führungskultur pflegen, die so modern ist wie ein Fiaker in Wien.
Die Unsichtbaren: Wer alles mitbringt, aber nicht befördert wird
Man kennt sie – oft ohne es zu merken. In jedem Unternehmen gibt es sie: Die Stillen mit Haltung. Die Klaren mit Ideen. Die Engagierten, die nicht glänzen wollen, sondern wirksam sein möchten. Sie sind nicht unbedingt laut, aber dafür umso deutlicher. Nicht immer bequem, aber unmissverständlich. Sie machen ihren Job mit Verstand, mit Herz, mit Verantwortung. Und sie bringen vieles mit, was moderne Führung heute ausmacht: Integrität, Selbstreflexion, Mut, Kommunikationsstärke, systemisches Denken. Sie sind Brückenbauer, Kulturträger, kritische Mitdenker:innen.
Diese Menschen sehen, wo es hakt und harzt – nicht nur auf Prozessebene, sondern im Zwischenmenschlichen, in der Kultur, im Führungsverständnis. Und sie haben den Mut, das auch zu benennen. Sie schweigen nicht aus Angst, sondern reden, weil ihnen etwas am Unternehmen liegt. Sie übernehmen Verantwortung, auch wenn sie nicht darum gebeten wurden. Sie engagieren sich über das Notwendige hinaus, weil sie sich mit ihrer Arbeit identifizieren. Sie wollen gestalten – nicht aus Geltungssucht, sondern aus Überzeugung.
Und doch: Sie passen nicht ins Schema. Sie entsprechen nicht dem klassischen Bild einer Führungskraft. Sie sind nicht stromlinienförmig genug, nicht diplomatisch genug, nicht angepasst genug. Sie spielen nicht das Spiel der Macht, sondern vertreten Haltungen. Sie sind loyal – aber nicht blind. Kritikfähig – aber nicht destruktiv. Visionär – aber nicht karrieregeil.
Genau deshalb werden sie übersehen. Oder schlimmer: kleingeredet, marginalisiert, ausgebootet. Ihnen wird oft subtil signalisiert: ‘Du bist zu fordernd. Zu direkt. Zu wenig Teamplayer’. Oder: ‘Du bist zu emotional. Zu idealistisch. Nicht reif genug für eine Führungsposition’. Und irgendwann fangen sie an, an sich zu zweifeln. Oder sie ziehen sich zurück. Oder sie gehen – freiwillig oder unfreiwillig.
Was zurückbleibt, ist ein Vakuum. Und ein riesiger, teurer Verlust. Nicht nur für das Unternehmen, das damit genau jene verliert, die echte Veränderung ermöglichen könnten. Sondern für die Arbeitswelt insgesamt, die sich systematisch ihrer klügsten, mutigsten und engagiertesten Köpfe beraubt. Weil diese nicht laut genug trommeln. Weil sie nicht ins Raster passen. Oder weil sie zu unbequem sind, um bequem befördert zu werden.
Die Unsichtbaren sind keine Opfer – sie sind Ressourcen. Aber sie werden in einem System, das Konformität belohnt und Anpassung fördert, unsichtbar gemacht. Dabei wären sie genau die Führungspersönlichkeiten, die wir in einer Welt voller Widersprüche, Umbrüche und Komplexität brauchen: Menschen mit Rückgrat. Mit innerer Klarheit. Mit dem Willen, nicht nur Prozesse zu optimieren, sondern Sinn zu stiften.
Solange Unternehmen nicht lernen, diese Talente zu erkennen, zu fördern und zu halten, werden sie weiterhin Führungskräfte bekommen, die Probleme verwalten – anstatt sie zu lösen.
Was gute Führung heute ausmacht
Führung war schon immer eine anspruchsvolle Aufgabe – aber noch nie war sie so komplex wie heute. In einer anspruchsvollen Arbeitswelt, die geprägt ist von Unsicherheit, Beschleunigung und ständigem Wandel, reicht es nicht mehr, Ziele zu setzen und deren Erreichung zu überwachen. Führung ist heute weit mehr als die Organisation von Arbeit. Sie ist eine kulturelle, soziale und emotionale Aufgabe, bei der nicht mehr Kontrolle, sondern Orientierung im Zentrum steht. Nicht mehr Hierarchie, sondern Verantwortung in Beziehung. Nicht mehr Machterhalt, sondern Entwicklung – der Menschen, der Teams, der Organisationen.
Gute Führung heisst heute: Räume schaffen, in denen Menschen wirklich wachsen können. Sicherheit vermitteln, ohne rigid einzuengen. Haltung zeigen, ohne zu dominieren. Es geht darum, Ambivalenzen auszuhalten, Spannungen konstruktiv zu nutzen und sich selbst nicht als Mittelpunkt, sondern als Möglichmacher:in zu verstehen. Moderne Führungspersonen brauchen nicht nur fachliche Kompetenz, sondern ein feines Gespür für das Soziale, für das Nicht-Ausgesprochene, für das, was zwischen den Zeilen passiert.
Gute Führungspersonen sind heute in der Lage…
- mit Komplexität zu leben, ohne sie zu vereinfachen: Sie bieten keine vorschnellen Lösungen, sondern begleiten durch die grosse Unsicherheit. Sie akzeptieren, dass es nicht immer eindeutige Antworten gibt – und dass genau darin der Reifegrad moderner Führung liegt.
- Vertrauen zu schaffen, ohne Kontrolle zu verlieren: Sie führen über Beziehung statt über Regeln. Sie trauen anderen etwas zu – und stehen dafür ein. Vertrauen ist keine Naivität, sondern eine bewusste Entscheidung, die Eigenverantwortung stärkt und Leistung ermöglicht.
- Menschen zu fördern, ohne sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen: Sie schaffen Räume, in denen andere strahlen dürfen. Sie definieren ihren Erfolg nicht über Macht, sondern über die Entwicklung der Menschen, für die sie Verantwortung tragen.
- Widerspruch zuzulassen, ohne die Autorität zu verlieren: Sie verwechseln Führung nicht mit Rechthaben. Sie schaffen ein Klima, in dem Fragen erlaubt sind, Kritik erwünscht ist und Diversität nicht als Störung, sondern als Stärke gesehen wird.
- Fehler zu nutzen, statt sie zu vertuschen: Sie leben eine Kultur des Lernens. Fehler sind für sie keine Schwächen, sondern wertvolle Hinweise auf Potenzial. Sie führen mit Transparenz – nicht mit Angst.
Wer so führt, verändert nicht nur einzelne Teams, sondern ganze Organisationen. Denn gute Führung ist ansteckend: Sie setzt einen kulturellen Prozess in Gang, in dem Eigenverantwortung, Kreativität und Vertrauen zum Normalfall werden – nicht zur Ausnahme. Unternehmen, die solche Führungskulturen leben, sind widerstandsfähiger, innovativer und menschlicher. Sie ziehen nicht nur Talente an, sondern halten sie. Sie bauen keine Machtzentren, sondern Sinnräume.
Gute Führung ist kein Titel, keine Position, kein Excel-Sheet. Sie ist ein gelebter Anspruch – sichtbar im Alltag, spürbar im Umgang, wirksam in der Kultur.
Wege aus der Sackgasse: Wie Organisationen besser fördern können
Wenn Organisationen sich ernsthaft weiterentwickeln wollen, reicht es nicht, über neue Arbeitsformen, agile Methoden oder Employer Branding zu sprechen – sie müssen dort ansetzen, wo der grösste Hebel liegt: in der Art und Weise, wie Führung entsteht und besetzt wird. Eine neue Beförderungskultur ist nicht nur ein HR-Thema – sie ist eine strategische Notwendigkeit. Denn wer immer dieselben Typen nach oben bringt, erhält immer dieselbe Organisation – egal wie viel man über ‘Transformation’ redet.
Was braucht es also konkret für eine bessere, zukunftsfähige und gerechtere Beförderungskultur? Neun Schritte – konsequent gedacht und konsequent umgesetzt:
- Führung definieren – nicht vermuten
Zu viele Organisationen arbeiten mit unklaren oder romantisierten Führungsbildern. Wer führen soll, muss wissen, was damit konkret gemeint ist. Heisst Führung bei uns eher ’Kontrolle’ oder eher ‘Inspiration’? Geht es um Verantwortung oder Repräsentation? Um Menschen oder Prozesse? Unternehmen brauchen ein klares, operationalisiertes Führungsverständnis – abgestimmt auf ihre Kultur, aber offen für Veränderung. - Karrierepfade differenzieren
Nicht jeder will führen – und nicht jeder sollte es müssen. Eine gesunde Organisation bietet gleichwertige Fach- und Führungskarrieren an. Wer sich in der Tiefe eines Fachgebiets entfalten möchte, soll genauso viel Anerkennung, Entwicklung und Vergütung erfahren wie jemand mit Personalverantwortung. Nur so lässt sich der fatale Druck vermeiden, dass Karriere automatisch in Führung münden muss – oft mit Überforderung als Folge. - Potenzialdiagnostik einführen
Führungspotenzial ist keine Frage des Bauchgefühls. Es lässt sich professionell erheben – mit psychologisch validierten Verfahren, die über Noten, Fleiss und Betriebszugehörigkeit hinausgehen. Potenzialdiagnostik misst unter anderem emotionale Intelligenz, Ambiguitätstoleranz, Selbstführung, Werteorientierung und soziale Wirkung – Fähigkeiten, die in klassischen Leistungsbeurteilungen kaum auftauchen, aber für gute Führung essenziell sind (siehe auch IAP Basel) - Feedback systematisieren
Niemand sieht sich selbst so, wie andere einen sehen. Deshalb braucht es 360°-Feedbacks – strukturiert, anonymisiert und regelmässig. Rückmeldungen von Kolleg:innen, Vorgesetzten und Mitarbeitenden helfen, blinde Flecken zu erkennen und Entwicklung gezielt zu steuern. Solche Feedbackprozesse sollten integraler Bestandteil jeder Beförderungsentscheidung sein – nicht als Kür, sondern als Pflicht. - Diversität fördern
Vielfalt ist kein Trend, sondern ein strategischer Vorteil. Unterschiedliche Perspektiven erhöhen die kollektive Intelligenz einer Organisation. Wer Führung nur nach dem Schema ‘jung, dynamisch, durchsetzungsstark’ besetzt, verspielt Potenzial. Es braucht Führungskräfte mit verschiedensten Hintergründen, Herangehensweisen, Denkstilen und Lebensrealitäten. Denn komplexe Probleme lösen sich nicht mit homogenen Führungsteams. - Scheitern endlich entstigmatisieren
Nicht jede Führung funktioniert – und das ist okay. Was zählt, ist die Lernfähigkeit, nicht das Scheitern selbst. Es braucht Strukturen, in denen Führung auch wieder abgegeben werden kann, ohne Gesichtsverlust. Führung sollte reversibel sein – nicht im Sinne von ‘Abstieg’, sondern als bewusste Neuorientierung. Das schafft psychologische Sicherheit und reduziert die Angst, überhaupt Verantwortung zu übernehmen. - Mentoring statt Management
Führung bedeutet nicht, andere zu kontrollieren – sondern sie zu fördern. Menschen entwickeln sich nicht durch Anweisungen, sondern durch Vorbilder, Begleitung und Raum zur Entfaltung. Deshalb braucht es mehr Mentoring-Ansätze: erfahrene Führungskräfte, die ihr Wissen weitergeben, und eine Kultur, in der gegenseitige Unterstützung wichtiger ist als Konkurrenz. - Reflexion als Pflicht
Gute Führung beginnt bei der Selbstführung. Wer andere führen will, muss sich selbst regelmässig hinterfragen: Was löse ich aus? Was bewirke ich mit meinem Verhalten? Welche Werte treiben mich an? Diese Reflexion darf kein zufälliges Nebenprodukt sein – sie muss institutionalisiert werden, etwa durch Coaching, Supervision oder Peer-Reflexionen. - Führung nicht belohnen, sondern ermöglichen
Führung darf kein Karrierezuckerstück für Loyalität sein. Wer seit Jahren ‘gut funktioniert’, ist nicht automatisch eine gute Führungskraft. Beförderung muss an Haltung, Wirksamkeit und Zukunftsfähigkeit geknüpft sein – nicht an Anwesenheit oder Anpassung. Nur wer bereit ist, Verantwortung über sich hinaus zu tragen, sollte auch strukturelle Macht erhalten.
Fazit: Mutige Führung braucht mutige Entscheide
Solange wir in Organisationen Beförderung weiterhin als Belohnung für vergangene Loyalität, Fleiss oder Anpassung verstehen, wird sich an der Qualität unserer Führungskultur nichts Grundlegendes ändern. Die strukturelle Schieflage bleibt bestehen. Menschen mit Haltung, Mut und Veränderungswillen bleiben aussen vor – während jene, die das System brav bedienen, nach oben durchgereicht werden. Wer Führung wie ein Dankeschön behandelt, macht sie zum symbolischen Karriereziel – statt zur verantwortungsvollen Gestaltungsaufgabe.
Nur wenn wir bereit sind, diese Art von Entscheidungen zu treffen, kann sich wirklich etwas verändern. Dann werden aus Verwaltungen wieder lebendige Organisationen. Aus Kontrolle entsteht Vertrauen. Aus Stillstand Bewegung. Und aus blosser Karriere wieder echte Verantwortung.