Modelle – doppelte Blindheit statt doppelter Buchführung.
Unsere Welt ist so komplex geworden, dass wir ohne Modelle nicht auskommen. Ohne Modelle keine Verkehrslenkung, keine Renten, keine Seuchenprävention. Indes sind Modelle Werkzeuge der Vereinfachung, die laufend überprüft werden müssen. Dass dies nicht geschehen ist, ist eine der Ursachen der «Krise» (ein Beitrag von: Betty Zucker und Kay W. Axhausen).
Die letzten Monate haben gezeigt, wie wichtig für das Wohl unserer Gesellschaft Modelle sind: keine Verkehrslenkung, keine Warnung vor Schweinegrippe, keine Renten ohne Modelle. Dabei sind Modelle unter Beschuss geraten, ja zuweilen zum Sündenbock gemacht worden. Aber ein Modell ist lediglich ein Werkzeug und in der Praxis nur so gut wie seine Anwender. Das Zusammenspiel von Modellbauern und Anwendern ist relevant – und mit doppelter Blindheit gesegnet. Ein vertrackter Wahnsinn der Vernunft. Was passiert?
Keine dummen Fragen
Die Modellbauer sind oft Wissenschafter: Physiker, zum Beispiel (Versicherungs-)Mathematiker oder Ingenieure. Sie leben in ihrer eigenen Welt, in der Regel weit weg vom Markt oder vom Alltag der praktischen Anwendung. Sie stehen unter Zeit- und Kostendruck, schliesslich will der Auftraggeber seine Ziele erreichen, was oft dazu führt, dass sie ihre eigenen Annahmen nicht überprüfen. Seien es Annahmen einer Normalverteilung bei Portfoliomodellen oder konstanter Beziehungen wie in der berühmt-berüchtigten Li-Formel zum Hypothekarmarkt.
Auch Bewertungen statistischer Ausreisser (die oft «geglättet» werden, obwohl sie Frühindikatoren für Modellrisiken sein könnten) oder die Qualität der Daten wie ihre Aktualität, Akkuratheit oder Herkunft werden selten in Frage gestellt. Dabei sind diese Daten die Basis aller Berechnungen. – «Quants», wie Modellbauer auch genannt werden, sind «betriebsblind» hinsichtlich ihrer eigenen Quants. Hauptsache, die Resultate passen zur Theorie und sind nicht zu weit weg von den bisherigen Ergebnissen. Sonst brauchte dies, da es gegen die Erwartungen geht, grössere Überzeugungsarbeit, sei es im Kollegenkreis oder beim Anwender, sprich: die Bereitschaft, angegriffen zu werden, und kommunikative Fähigkeiten.
Die wenigsten Modellbauer gelten als grosse Helden oder stimulierende Rhetoriker, jemand nannte sie einmal «Sozialautisten».
Die meisten sind – Gott sei Dank – auch nur Menschen, die oft den Weg des geringsten Widerstands gehen. Damit fehlt ein Korrektiv aus anderen Realitäten. Auf diese Weise erblinden viele Modellbauer. Sie sehen nicht mehr, dass Modelle eher Karikatur als Realität sind, eine Reduktion auf das angenommene Wesentliche, um der Komplexität Herr zu werden. Denn: Einfache Botschaften sind gewünscht, was Modelle können und nicht ihre Grenzen – das würde schon wieder kompliziert werden.
Und damit sind wir beim Anwender: dem Manager, der schliesslich fürs praktische Handeln bezahlt wird. Der Anwender, sei es der CEO, CFO oder andere C-Manager in Unternehmen oder Behörden, ist ein Macher. Er muss Ergebnisse liefern, quartalsweise und möglichst risikofrei. Wachstum heute ist oft wichtiger als Risiken morgen. Er steht im «Luftüberlegenheitskampf», wie es einer einmal formulierte, im Wettbewerb mit der Konkurrenz – extern wie intern. Da stellt man vor den Kollegen oder dem Chef keine «dummen» Fragen, um die Modelle und ihre Daten zu verstehen. In dieser Atmosphäre wird «managerial correct» vertraut und Verantwortung delegiert: an Leute, «die es schon wissen werden», an Glaubwürdigkeit einflössende «wissenschaftliche» Experten.
Der Manager/ Politiker/Behördenchef gilt bei Modellbauern meist als mathematisch-statistischer Analphabet, der im Angesicht des Formelchinesisch zuweilen einen Minderwertigkeitskomplex entwickelt.
Sie haben darüber hinaus x andere Probleme zu lösen. Verstehen kostet nicht nur Zeit, sondern es müsste auch die Komfortzone des Nichtwissens verlassen werden. «Was sollen wir da tun?» Die gute Tat wird teuer, und die Gefahr, dass die Analyse in die Paralyse führen kann, muss vermieden werden. Dann lieber nicht so genau hinsehen. Schliesslich muss man ja handlungsfähig bleiben.
Organisierter Blindflug
Hohe Intelligenz auf allen Seiten verführt sich gegenseitig: Der kommunikativ nicht unverbesserbare Modellbauer trifft auf den vertrauensvoll wegschauenden Anwender. Die hehre Transparenz wäre möglich, doch im Eifer des Gefechts entwickelt sich eine unheilige Allianz zwischen Wissenschaft und Praxis, zwischen Modellbauern und Anwendern im Nichtsehen.
Statt doppelt hinzusehen, wie es eine seriöse Geschäftsführung üblicherweise praktiziert, indem sie jeden Geschäftsfall mindestens doppelt, auf zwei Konten, verbucht und damit sichtbar macht. – Wie lässt sich das Risiko des organisierten Blindflugs reduzieren? Wir könnten etwa darauf vertrauen, dass das Erkennen dieser «gemeinsamen Fähigkeit» zu mehr Bescheidenheit oder Achtsamkeit im Umgang mit Modellen führt. Doch es geht auch anders: Der ETH-Professor Didier Sornette stellt seine Preisprognosen zur Überprüfung öffentlich zur Verfügung. Das englische Verkehrsministerium rechnet seine Prognosen nach jeder eröffneten Strasse mit den aktuellen Daten nach. Das kontinuierliche Lernen kann damit beginnen. Dies geht bei unternehmensinternen vertraulichen Modellen nicht. Eine ausgewählte interne Öffentlichkeit könnte allerdings zur erhellenden Diskussion führen. Können – regelmässig wechselnde – «Übersetzer », die in beiden Welten daheim sind, mit hoher fachlicher und hierarchischer Kompetenz weiterhelfen?
Den Modellbauern könnten sie systematisch Fragen stellen und kommerzielle oder politische Perspektiven einbringen. Dem Management könnten sie das «Kleingedruckte», die Annahmen in den Modellen, vergrössern und mögliche Konsequenzen aufzeigen. Dann könnten Modelle den Machern eher den Überblick geben und ihnen helfen, den gesunden Menschenverstand zu nutzen. Die Übersetzer müssten einen direkten Draht zum Verwaltungsrat haben, damit ihre Kritik ernster genommen wird. Sind wir bereit, die sich dadurch erhöhende Komplexität zuzulassen, um das Risiko einer inkorrekten Anwendung zu reduzieren?