Der «Neue»: die ersten 100 Tage. Push up oder rhetorisches Accessoire?
Der «Neue» – der neue Chef – «bewegt» das Unternehmen. Die ersten 100 Tage sind nicht nur für ihn eine ungewisse Reise in der Organisation. Auch Mitarbeiter sind unsicher und verfolgen nicht selten Strategien, um bestehende Strukturen und die eigenen Rollen zu retten (ein Beitrag von: Betty Zucker).
Mit einem grossen Fernseher, Perserteppich und zwei schwarzen Corbusier- Zweisitzern ist er ins Büro eingezogen. Der Neue nennt sich «Dick». Das Management wartete seit Monaten auf ihn und gewisse Entscheide sind deshalb durchgepeitscht und/oder auf Eis gelegt worden. Der «Alte» wurde zu einem Chef ohne Macht, eine «lame duck», wie es so schön heisst. Zum Schluss wurde er auch noch krank. Jetzt warten wieder viele: Auf einen aussagekräftigen Blick von Dick, ein Schmunzeln oder Stirnrunzeln oder gar einen Kommentar auf einem seiner vielen Besuche in den verschiedenen Bereichen: Ja, so sehe ich das auch, oder: Wir machen’s in Zukunft anders. Wo es noch nicht viel Orientierung gibt, werden diese Signale wichtig. «Es ist ein Suchen und sich Finden», wie es ein Kunde von mir formulierte oder ein «Erstarren im Übergang» sowie ein «Kulturschock», wie es ein anderer empfindet.
Goldwäscher in der Datenflut
Der «Alte» war ein Analytiker und Strukturen waren wichtig für ihn. Sein Element waren Zahlen in Kuchenform und dreifarbige Kurven. Wie ein Goldwäscher siebte er in der Datenflut auf der Suche nach dem Wow-Faktor; in den Zahlen vom letzten Quartal. Dabei zeigte er immer wieder Verständnis dafür, dass die Schweiz und die Schweizer Kunden ein Sonderfall seien und deshalb der Markt besonders schwierig sei. Das Management wusste, wie die Zahlen zu sortieren waren, um für die nächsten drei Monate bis zur nächsten Runde «in Ruhe» arbeiten zu können.
Doch mit Dick geraten die bisherigen Erfolgsroutinen ins Stolpern. Bei elaborierten PowerPoint-Präsentationen bittet er: «come to the point – forget the power.» Willkommen im «Durcheinandertal» würde Friedrich Dürrenmatt sagen. Der Neue, knapp 40 Jahre jung und einiges jünger als seine Geschäftsleitungsmitglieder, habe das Geschäft von der Pike auf gelernt, sei «people oriented» und scheint die Gesamtperspektive zu lieben. Er will die Strategie für die nächsten zwei Jahre erkennen. Wenn die Schweizer so besondere Kunden seien, dann erst recht: Wie lassen sie sich gewinnen? Wie kann man sie der Konkurrenz abjagen?
Zahlen von gestern interessieren ihn nur am Rande. «Gouverner c’est prévoir» verkündet er mit einem charmant klingenden amerikanischen Akzent. Er will ein pragmatisches, nach vorne gerichtetes Handeln mit einem etwas weitsichtigeren Denken. Dies ist wahrlich ein Unterschied zum bisherigen Quartalsmanagement-Stil. In diesem wurde vor lauter Zeitdruck und Aktivität wenig zu Ende gedacht. Und manche nahmen angesichts der Kosten (Glaubwürdigkeit und viele Konzepte in der Schublade) diese Hektik als «surreales Laientheater» wahr. Einige reden sogar schon vom kompletten Umdenken – eine langfristigere Sicht hätte man von einem Amerikaner nicht erwartet.
Statusangst wird zum Angststatus
Bloss: In Zeiten des Undenkbaren ist Geistesgegenwart im wörtlichen Sinne angesagt. Grosse Strategien stören da nur. Und gemessen werden sie ja trotzdem an den Quartalszahlen, gibt das Management zu bedenken. «Ein guter Manager findet seinen Weg zum Ziel, der schlechte erfindet Entschuldigungen. Ich erwarte eine can do Haltung» wettert Dick und es geht los im freundlich forsch fordernden Ton, «to get it done». Die Botschaft ist glasklar – ein Erregungspunkt getroffen.
Der Neue steigt ihnen aufs Dach und ihr Blutdruck ebenso. Bislang wurde die Wertschätzung alle drei Monate «abgerechnet», jetzt wissen sie nicht, wie sie eingeschätzt werden und Kollegen «outperformen» können. Dick scheint das Geschäft zu verstehen und hat Ruhestörungspotenzial. Das Management findet sich mehrheitlich beobachtend. Mittendrin und voll daneben. Wie denkt er? Was will er? Was ist ihm wichtig? Kann er die Organisation verändern, ohne dass die Organisation ihn verändert? Wie wird der Neue sich von ihnen steuern lassen? Wird es ein «push up» für die mentalen Oberweiten oder sind es nur neue verbale Accessoires?
Und: Was heisst das für die eigene Karriere? Ist man noch im vertraulichen «career pool», dem menschlichen Reservoir für die nächsten höheren Weihen? Ein Kollege wurde nach wenigen Wochen «freigestellt». Die Statusangst wird bei manchem zum Angststatus, ein Kreis der anonymen Melancholiker entsteht. Der «homo performans» will mit Sicht auf den nächsten «performance Dialog» doch punkten.
10 Regeln fürs Scheitern der eigenen Karrierebewirtschaftung in den ersten 100 Tagen:
- Hören Sie auf Ihre Angst. Sie erleichtert das Fokussieren auf den Neuen und schenkt Ihnen den Scharfsinn, sofort seine Schwachstellen zu erkennen.
- Unterscheiden Sie nicht, was persönlich gemeint ist und was sein Job ist. Er ist schliesslich auch nur ein Mensch.
- Weihen Sie ihn gleich in ihre Vorstellungen ein. Der Neue soll so schnell es geht erfahren, was die Situation erfordert und was die spezifische Kultur des Ladens ist.
- Wo die Maskerade die Norm ist, seien Sie ganz «authentisch». Sie wollen sich schliesslich nicht verbiegen und so weiss er von Anfang an, woran er mit Ihnen ist.
- Zeigen Sie gemeinsam mit Ihren Kollegen ein paar Stacheln. Sie sind doch ein eingespieltes Team und es geht darum, dies zu erhalten.
- Überlassen Sie Dick die Initiative. Schliesslich gibt es genug Tretminen auf dem jetzt unbekannten Terrain.
- Das gilt auch für die Kommunikation: Jedes Wort ist eine Fehlerquelle.
- Er soll erst mal zeigen was er kann. Sie haben schon viel falschen Zauber erlebt. Ein Kommen und Gehen und viele angerissene Projekte – Punkt.
- Zeigen Sie ruhig eine allzu gesunde Dosis Selbstbewusstsein. Sie haben ja bislang viel erreicht bei der Firma (nicht unbedingt für die Firma).
- Legen Sie ihm in der ersten Woche eine wichtige Entscheidung vor. Sie haben auf den Neuen gewartet und der kann sich jetzt gleich positionieren. Ihnen gibt das die Gelegenheit zu zeigen, wie viel Erfahrung Sie im Geschäft haben.
Kulturschock auf beiden Seiten
«In welchem Zoo bin ich denn gelandet», fragte sich ein Kunde, als er eine neue Stelle als CEO antrat. «Alles wilde Tiere hinter Gittern. Nicht echt. Manche wollen sich gleich anheimeln. Diese Schleimer hasse ich wie die Pest. Andere zeigen sich eher von der aggressiven Seite und verwechseln das mit Selbstbewusstsein.» Auch die CEO-Gemütslage ist nicht zitterfrei. Er spürt die Rundum-Blicke, ahnt den «Liveticker», die E-Mails über ihn im Mitarbeiternetzwerk. Die Ähnlichkeit der im Rahmen seiner Anwerbung geschilderten Lage mit der Wirklichkeit ist begrenzt. Angesichts der vielen Baustellen will er den Fokus nicht verlieren. Doch manchmal wird’s ihm ganz mulmig in der Magengegend. Er will nicht ins bisherige Fahrwasser rutschen und: Er kennt das Terrain noch nicht, das unsichtbare, wirkliche Machtgefüge. Erhält er relevante Informationen oder werden «Blendgranaten» geworfen? Soll er überrumpelt oder «geschont» werden – aus vermeintlicher Fürsorge? Um die Unsicherheit im Übergang zu reduzieren, will er gefragt werden, was ihm wichtig ist, welches seine Prioritäten sind, wie er involviert werden will, in welchem Ausschuss er dabei sein will und in welchem nicht. «Dabei kann ich gut unterscheiden, was ehrlich gemeinte Fragen sind» und welche ihm nur zeigen sollen, was für ein «toller Hecht» vor ihm stehe. «Daran erkenne ich, ob ich es mit talentierten Filous zu tun haben werde oder einem pro-aktiven kompetenten Management.»
Beide Seiten sind unsicher, haben ihre Erfahrungen und brauchen einander. Alle sind beteiligt, neue Erfolgsroutinen zu entwickeln – mittendurch und voll nach vorn.