Das heisse Eisen Personenfreizügigkeit.
Die Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und der EU erhitzt die Gemüter regelmässig. (Ein Beitrag von: Myra Fischer-Rosinger, swissstaffing).
Und das hat seine einleuchtenden Gründe. Denn die Personenfreizügigkeit ist mittlerweile eine vollständige (abgesehen von der kürzlich aufgerufenen Ventilklausel) und somit (scheinbar) unbegrenzt. Das nährt Befürchtungen, dass EU-Bürger ungebremst in die Schweiz einwandern könnten und der Schweizer Wohnbevölkerung Arbeitsplätze, Wohn- und Mobilitätsraum strittig machen.
Die Positivspirale
Die Schweiz ist tatsächlich exponiert, weil sie im europäischen Vergleich hohe Löhne bezahlt, eine tiefe Steuerbelastung hat und eine gut ausgebaute Infrastruktur bietet. Kurzum: Der Standort Schweiz ist äusserst attraktiv. Davon profitieren aber definitiv nicht nur Zuwandernde, sondern auch die Ansässigen. Denn je attraktiver ein Standort ist, desto mehr Unternehmen siedeln sich an, desto mehr Arbeitsplätze werden geschaffen und desto mehr Steuergelder fliessen für die Pflege der Infrastruktur. Dass man als (internationale) Firma über die Schweizer Grenzen hinaus Fachpersonal und Spezialisten rekrutieren kann, ist zweifellos einer der hiesigen Standortvorteile. Die Personenfreizügigkeit ist insofern Teil einer Positivspirale (siehe Grafik 1).
Dass es sich umein sich selbst regulierendes System handelt, zeigt auch die Tatsache, dass die Neuzuwanderung ganz deutlich vom Konjunkturverlauf abhängt.
In Boom-Phasen nimmt die Zuwanderung zu, in rezessiven Phasen reduziert sie sich. Daran ändert auch die Einführung oder der Ausbau der Personenfreizügigkeit nichts. Sowohl bei deren Einführung im Jahr 2002 als auch beim Übergang zur vollen Personenfreizügigkeit 2007 (mit den alten EU-Ländern) nahm die Zuwanderung zunächst ab. Denn beide Male befand man sich am Anfang beziehungsweise bereits mitten in einer konjunkturellen Abkühlung. In den Jahren darauf nahm die Zuwanderung dann zu, weil auch die Wirtschaftsleistung wuchs (siehe Grafik 2). Die Zahl der Schweizer Erwerbstätigen oder der ausländischen Erwerbstätigen mit langfristiger Niederlassungsbewilligung in der Schweiz reagiert dagegen mit deutlich weniger Ausschlägen auf die Konjunkturlage.
Die flankierenden Massnahmen
Auf diese Art der Selbstregulierung wollten sich die Schweizer Politiker und Behörden aber nicht verlassen, als sie die Personenfreizügigkeit beschlossen und dem Volk (mehrfach) zur Abstimmung vorlegten. Deshalb haben sie das System zusätzlich mit flankierenden Massnahmen versehen. Diese sollen sicherstellen, dass die hiesigen Arbeitsbedingungen im Zuge der Marktliberalisierung nicht unterwandert werden. Die flankierenden Massnahmen werden jährlich auf ihre Wirksamkeit hin überprüft. Kürzlich hat das SECO wieder einen entsprechenden Bericht veröffentlicht: Im vergangenen Jahr haben unter dem Titel der flankierenden Massnahmen 37’000 Kontrollen bei Arbeitgebern stattgefunden. Knapp ein Drittel der Kontrollen wurde bei Entsendebetrieben durchgeführt, also ausländischen Firmen, die für begrenzte Aufträge in der Schweiz tätig sind. Rund 18 000 Kontrollen richteten sich an Schweizer Betriebe. Knapp 6000 Kontrollen fanden bei meldepflichtigen Selbständigerwerbenden statt. 2011 war notabene ein Jahr, in dem die Zuwanderung nach ein paar finanzkrisenbedingt rückläufigen Jahren wieder deutlich zugenommen hat.
- Befugt, die Lohn- und Arbeitsbedingungen zu kontrollieren, sind einerseits die paritätischen Kommissionen allgemeinverbindlicher Gesamtarbeitsverträge. Sie überprüfen die Einhaltung ihres Gesamtarbeitsvertrages in der betreffenden Branche.
- In Branchen ohne allgemeinverbindliche Gesamtarbeitsverträge sind die kantonalen tripartiten Kommissionen zuständig. Sie kontrollieren, ob die in ihrer Region bezahlten Löhne und Arbeitsbedingungen orts- und branchenüblich sind.
Was als orts- und branchenüblich angesehen werden kann, ist allerdings nicht bis ins letzte Detail festzumachen.
Unterschiede bei den Kontrollen
Das schafft einen gewissen Spielraum, der im Interesse des Gesamtsystems als positiv zu bewerten ist. Denn anders als in Branchen mit allgemeinverbindlichen Gesamtarbeitsverträgen geht es bei der Orts- und Branchenüblichkeit um Grössenordnungen und nicht um die Stelle hinter dem Komma. Sanktionen wegen unbeabsichtigter Fehler können so in der Regel vermieden werden. Im Einzugsgebiet eines allgemeinverbindlichen Gesamtarbeitsvertrages tragen die Arbeitgeber hingegen bei jedem Lohnabschluss das Risiko, den Mindestlohn um ein paar Rappen zu verfehlen, bloss weil sie den einzustellenden Mitarbeiter versehentlich falsch in das meist nicht ganz einfache Lohnsystem des Gesamtarbeitsvertrages eingereiht haben. Kontrolliert man mit dem Massstab der Orts- und Branchenüblichkeit, führen Rappenabweichungen nicht zu Sanktionen, solange der ausbezahlte Lohn marktgerecht ist. Dieser Unterschied zwischen tripartiten und paritätischen Kontrollen erklärt vermutlich, weshalb die von den beiden Kontrollorganen festgestellten Verstossquoten auseinanderklaffen.
- So haben die tripartiten Kommissionen im vergangenen Jahr bei 14 Prozent der untersuchten Entsendebetriebe und bei 9 Prozent der kontrollierten Schweizer Betriebe Lohnunterbietungen festgestellt.
- Die paritätischen Kommissionen meldeten dagegen eine Verstossquote von 35 Prozent bei den kontrollierten Entsendebetrieben und von 26 Prozent bei den überprüften Schweizer Arbeitgebern.
Die Vermutung liegt nahe, dass in dieser dreimal höheren Verstossquote in Branchen mit allgemeinverbindlichen Gesamtarbeitsverträgen viele nur minimale Abweichungen enthalten sind. Hinzu kommt, dass in gewissen Branchen auf Verdacht hin kontrolliert wird, während in anderen Branchen zufällige Kontrollen erfolgen. Die beobachteten Verstossquoten lassen sich deshalb nicht auf alle Arbeitgeber hochrechnen. Ausserdem melden die tripartiten und paritätischen Kommissionen nur vermutete Lohnunterbietungen beziehungsweise Verstösse. Zum Zeitpunkt der Berichterstattung durch das SECO waren gewisse Kontrollen gar noch nicht abschliessend beurteilt und einige Sanktionen gegen Verstösse noch nicht rechtskräftig.
Ein funktionierendes System
Aus diesen Gründen hindern die auf den ersten Blick eher hoch erscheinenden Verstossquoten das SECO nicht, in seinem Bericht zu einem positiven Schluss zu gelangen: Die Entsendebetriebe und die Schweizer Arbeitgeber seien bemüht, sich korrekt zu verhalten; der Vollzug der flankierenden Massnahmen erziele somit die beabsichtigten Wirkungen. Die erfolgreichen Einigungsverfahren, die Bereitschaft, auferlegte Bussen zu begleichen, und die tiefe Rückfallquote würden das belegen.
- So haben rund 80 Prozent der Einigungsverfahren mit Entsendebetrieben zu einer Lohnnachzahlung geführt.
- Die Einigungsverfahren mit Schweizer Arbeitgebern waren zu knapp 70 Prozent erfolgreich.
Insgesamt melden die Vollzugsorgane relativ wenige Rückfälle durch bereits vorgängig gebüsste Betriebe. Ein weiteres Sicherheitsnetz, das sich gewissermassen in die Idee der flankierenden Massnahmen einreiht, stellt der neue Gesamtarbeitsvertrag Personalverleih dar. Er sieht Mindestbestimmungen für alle Temporärarbeitenden in der Schweiz vor. Das ist ein Novum. Bislang galten nämlich nur für rund einen Drittel der Temporärarbeitenden Mindestbedingungen – nämlich in jenen Branchen, wo ein anderer allgemeinverbindlicher Gesamtarbeitsvertrag galt.
Seit dem 1. Januar dieses Jahres regelt hingegen der Gesamtarbeitsvertrag Personalverleih die Arbeitsbedingungen sämtlicher Temporärangestellten.
Und die Temporärbranche ist im Zusammenhang mit der Personenfreizügigkeit von wichtiger Bedeutung, weil es unter den Temporärarbeitenden viele Zuwanderer gibt – insbesondere meldepflichtige Kurzaufenthalter. Auch wenn jeder Gesamtarbeitsvertrag ein Stück weit in die Marktfreiheit eingreift, rechtfertigt sich der Gesamtarbeitsvertrag Personalverleih deshalb in derselben Logik, wie es die flankierenden Massnahmen tun. Er gibt der inländischen Bevölkerung mehr Sicherheit, was die Stabilität der hiesigen Arbeitsbedingungen betrifft, und schützt so das liberale System als Ganzes.
Handkehrum weist das SECO in seinem Bericht auf gewisse noch bestehende Mängel hin. Einerseits seien die Möglichkeiten zur Bekämpfung der Scheinselbständigkeit oder zur Sanktionierung von Schweizer Arbeitgebern, die gegen Normalarbeitsverträge verstossen, limitiert. Um diese Lücken in der Gesetzgebung der flankierenden Massnahmen zu schliessen, hat der Bundesrat am 2. März dieses Jahres das Bundesgesetz über die Anpassung der flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit verabschiedet. Der Gesetzesentwurf wird zurzeit in den eidgenössischen Räten diskutiert. swissstaffing erachtet das neue Bundesgesetz als zweckdienlich, weil es die Logik der flankierenden Massnahmen fortschreibt. Das Ziel bleibt, gleiche Wettbewerbsbedingungen für inländische und ausländische Betriebe zu schaffen. Als Mittel bleibt die Sanktionierung bei Verstössen gegen Gesamtarbeitsverträge und (neu) Normalarbeitsverträge.
Flankieren ist gut, aber das System muss offen bleiben.
Die Aufrufung der Ventilklausel gegenüber der EU-8 erscheint hingegen als nicht zielführendes Feigenblatt. Sie betrifft viel zu wenige Personen, als dass sie die Zuwanderung spürbar begrenzen könnte. Das Ventil erlaubt eine Reduktion der Aufenthaltsbewilligungen um rund 4000. Im vergangenen Jahr sind aber 159 000 Personen aus europäischen Staaten in die Schweiz eingewandert. Die Nettozuwanderung aus EU- und Drittstaaten – also abzüglich derer, die (wieder) auswandern – betrug 74 000 Personen. Vor allem entspricht die Ventilklausel aber einer Abweichung vom Grundprinzip er (vollen) Personenfreizügigkeit und damit vom liberalen Schweizer Arbeitsmarkt, der, wie eingangs aufgezeigt, für den Schweizer Standort von grosser Bedeutung ist. Flankieren ist gut, aber das System muss offen bleiben.