Apr 1

Distanz ist die neue Nähe. Ein Virus verändert uns.

Author: PersonalRadar

Ein Virus hält die Wirtschaft und die Gesellschaft in Schach. Alles kommt zum Erliegen. Behördlich angeordnete Distanz bildet die neue Nähe.

Distanz ist die neue Nähe (Bildquelle: www.pixabay.com, Fotografin: Elisa Riva)

Vor Monaten kam die Nachricht aus einer chinesischen Provinz und deren Regionalhauptstadt, die die meisten nicht mal kannten, dass es ein Virus gäbe, das Leute an Beatmungsgeräte zwinge und Menschen wie Fliegen sterben lässt. Die Informationen gingen in der täglichen Nachrichtenflut unter die  Mehrheit  ging zur Tagesordnung über. Millionen von Menschen in absoluter Quarantäne halten, durchgesetzt von einem Regime, das in der Regel nicht zimperlich mit seinem Volk umgeht, waren Fakten, die vielen einfach zu abstrakt waren. Was geht das uns an? Das ist weit entfernt. Hoffentlich kommen trotzdem die Container für die Konsumbereiten rechtzeitig aus der Werkstatt der Welt an. Ein Reissen der fein gewobenen globalen Nachschubkette war unvorstellbar.

Inzwischen wütet das Coronavirus auch in unseren Reihen und mit Verwunderung stellen viele fest, dass wichtiges medizinisches Versorgungs- und Verbrauchsmaterial, Impf- und Wirkstoffe gar nicht mehr heimisch hergestellt werden, sondern solche Produkte, weil sie sich angeblich nicht mehr lohnen herzustellen, nun aus Indien und China kommen. Schöne neue Welt!

Die Pharmanation Schweiz stellt hoch entwickelte, teure Krebstherapien her, aber für den Mundschutz reicht es nicht mehr. Gut ist der Anstoss gewisse Entscheide in Zukunft erneut zu überdenken und sich mal klar zu machen, ob der kühlen Gewinnoptimierung alles geopfert werden sollte, nur um Geld zu sparen. Das neue Denken und die frischen Erkenntnisse werden das altbackene Denken durchpflügen und dazu beitragen, dass sich vielleicht langsam aber sicher die Gewissheit über die Ignoranz erhebt, dass forciert billig meistens teuer zu stehen kommt.

Das Virus ist nun auch in unserer Welt angekommen. Mit aller Macht. Mit aller Brutalität. Schlicht, einfach und tödlich.

Die Arbeitswelt wird heruntergefahren. Das nennt sich ‚Shutdown‘. Masken, Desinfektionslösungen und Toilettenpapier sind die neuen Luxusgüter. Alle wollen sie. Sofort. Das Überleben hängt schliesslich davon ab. Das Verhalten der Menschen unter dem allgemeinen Stress des Ungewohnten nimmt zuweilen groteske Züge an. Quasi über Nacht werden liebgewonnene Tätigkeiten, Ablenkungen und persönliche Selbstverständnisse stillgelegt und behördlich untersagt. Die Welt ist still geworden. Das Leise findet wieder Beachtung.

Die radikale Entschleunigung des Lebens und die Entlarvung der täglichen Hetze für das angeblich so wichtige Einerlei, tragen dazu bei, dass das Langsame, das Bedächtige und das Bescheidene wieder wahrgenommen werden, obwohl diese eigentlich ja nie weg waren. Sie wurden einfach nicht beachtet, weil angeblich die Zeit dazu fehlte und die Geschwindigkeit des Lebens viele hastig durchs Leben trieb, sodass das Profane, das wir im Moment alle so vermissen, sang- und klanglos unterging. Die Geschwindigkeit des Lebens ist jetzt abrupt auf den ‚Slow-Motion-Modus‘ reduziert.

Zuhause bleiben und sich selber beschäftigen müssen, fällt nicht allen leicht. Das Zuhause kann auch zum Gefängnis werden (Bildquelle: www.pixabay.com, Fotograf: Gerd Altmann)

Wir sind eingeschlossen. Das soziale Leben ist im Schockzustand. Die Ruhe, die viele suchten, liegt wie ein schwerer Findling tonnenschwer auf dem Gemüt. Soviel Ruhe wollten wir ja gar nicht. Nur ein bisschen. Jetzt ist sie da. Viele sind von ihr total überfordert. Viele tigern in der Wohnung herum, graben den Garten um, sortieren die Briefmarkensammlung bis zur Erschöpfung, martern das glühende Hirn mit der Aussicht, was es bald wieder als Stimulanz erhält und erschlaffen erstaunt schnell über die Erkenntnis, dass das erzwungene Alleinsein eine  der anstrengendsten Tätigkeiten ist, die das Leben uns bereithält. Das eigene Aushalten mit sich selber hält wach. Das Wachkoma als Vexierbild der eigenen Situation macht viele trübsinnig. Wann hört es auf?

Auch die Nähe hat eine andere Qualität erhalten. Die Nähe war immer da, aber sie wurde nicht als das erkannt, was sie ist, nämlich Ausdruck von dem was uns menschlich macht. Erst die erzwungene Distanz bringt uns endlich wieder näher und zeigt auf, dass wir soziale Wesen sind und der gesellschaftliche Kältetod nicht der Massstab der Moderne ist, sondern die Augenblicke des Seins uns wieder aufzeigen, dass der Tag 24 Stunden hat, die wir möglichst gut verleben sollten. Die ‚24h-Gesellschaft‘ macht in der Regel Party. Tag und Nacht. Alles ist zu haben. Sofort. Ist die Party aber aus, dann sind 24 Stunden eine verdammt lange Zeit.

Die Einschränkungen sind total und das permanente Eingesperrtsein für viele eine neue Erfahrung. Plötzlich ist man auf sich selber angewiesen und schrumpft radikal auf das was man immer war: ein verletzlicher Mensch voller Ängste, der sich nicht mehr ablenken kann, weil es keine Ablenkung mehr gibt und die schnelle Zerstreuung als Mittel zum Zweck ausbleibt, weil sie gar nicht mehr da ist.

Zwang zu ertragen ist für eine freiheitlich ausgerichtete, stark individualisierte Gesellschaft besonders schwer. Freiheit ist das Elixier des Seins und das absolute Selbstverständnis vieler (Bildquelle: www.pixabay.com, Fotograf: Ahmed Hassan Kharal)

Die vielen vergangenen, angenehmen Ablenkungen des täglichen Lebens trösten nicht darüber hinweg, dass auch mehr und mehr das Bewusstsein in uns hochkriecht, dass die Krise auch Gutes schafft, weil viele das nicht mehr schafften, was das Leben eben ausmacht: die Nähe zum Gegenüber.

Sich mal Zeit nehmen für andere, die wichtig sind, die man aber gerne vernachlässigt, weil man immer wieder zum Schluss kam, dass diese in Konkurrenz mit Sachen sind, die vielleicht angeblich noch wichtiger sind.

Das Virus bringt das Arrangement der Schweinwerfer durcheinander. Nicht mehr das eigene Ich steht im Lichtkegel auf der Bühne, sondern eine winzig kleine Eiweisshülle, die weltweit menschliche Lungenflügel atemlos macht und diese verschleimen lässt.

Das alte Vorher wird das neue Nachher nicht mehr dominieren. Wir werden hoffentlich geläutert und mit geschärften Sinnen aus der Sache rauskommen und uns ungläubig die Augen reiben. Meinen wir wirklich, die Welt uns untertan machen zu können? Meinen wir wirklich nur mit einer grob-mechanistischen Denkweise das Wirtschaftliche über alles erheben zu lassen? Meinen wir wirklich es uns leisten zu können, die klugen Köpfe der Wissenschaft mit besserwisserischer Kennerschaft zu ignorieren und mit dem eigenen Halbwissen alles allen erklären zu müssen?

Das Virus zeigt die Verletzlichkeit von Strukturen, Systemen und Werten. Es bietet uns die Chance einiges zu überdenken, bevor der Alltag uns wieder in Beschlag nimmt und die Hetze von vorne beginnt. Das Virus hat uns zur Distanz gezwungen. Viele Menschen bemerken jetzt mit ungläubigem Staunen, dass uns diese gar nicht gut tut, sondern die zwischenmenschliche Nähe, die uns im Moment zwangsweise entsagt wird, in einer tendenziell kulturpessimistischen Gesellschaft dazu beiträgt, dass wir als Wesen funktionieren, arbeiten und einfühlend bleiben.

Die Ungezwungenheit des Zusammenseins, ohne den penetranten Geruch von Sterilisationswässerchen, werden viele bald wieder zu schätzen wissen. Das Vorher wird nicht das Nachher (Bildquelle: www.pixabay.com)

Die epidemiologisch nachvollziehbare erzwungene Vereinsamung ist kein Zustand. Diese hilft einfach dem Virus den Garaus zu machen. Abstand ist die neue Nähe. Aber sich ohne Abstand austauschen können, sich per Handschlag oder Umarmung begrüssen dürfen, die Mimik des Gegenübers direkt und nicht via Skype oder Facetime erkennen, sind Bedürfnisse, die die Meisten bis anhin nicht kannten. Jetzt bemerken alle den Mangel an direktem Austausch und hoffen auf bessere Zeiten.

Dieses Virus ist asozial. Es hilft uns jedoch auf die Sprünge. Hoffentlich setzen wir alle zum grossen Sprung in eine neue Zeitrechnung an, wo Mitmenschlichkeit als das erkannt wird was sie ist: ein Bedürfnis! Virus sei Dank. Bleibt gesund.

An dieser Stelle noch ein Dankeschön an:

  • das Gesundheitspersonal, das sich um uns kümmert
  • das Personal in den Tagesheimen, das die Kinder betreut, deren Eltern arbeiten müssen
  • das Verkaufspersonals, das immer für uns da ist, wenn wir was brauchen
  • die Handwerker/-innen und Techniker/-innen, die die Infrastruktur im Schuss halten
  • die Logistiker/-innen, die den Austausch von Waren lokal, regional, national und international ermöglichen
  • das Personal der Blaulichtorganisationen, die für Sicherheit und anderes sorgen
  • die jungen Soldaten/-innen, das Fachpersonal der Armee, die zivile Spitäler und Gesundheitsorganisationen unterstützen
  • das Personal der öffentlichen Verwaltungen, die für eine reibungslose Administration sorgen
  • die Politiker/-innen, die den ideologischen Eigensinn dem Allgemeinwohl unterordnen und plötzlich Lösungen finden
  • Das in der Landwirtschaft tätige Personal, das dafür sorgt, dass wir Essen auf dem Tischen haben
  • alle anderen, die an dieser Stelle vergessen gingen, aber im Hintergrund funktionieren und das Getriebe am Laufen halten

DANKE für alles! (Bildquelle: www.pixabay.com, Fotograf: Nono Bodo)