Ein gesetzlicher Mindestlohn ist kein Mittel gegen Erwerbsarmut.
Die Mindestlohninitiative des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds will einen Mindestlohn von 22 Franken pro Stunde gesetzlich festlegen, damit die Entlohnung zum Leben reiche. Der Ansatz verfehlt jedoch sein Ziel: Ein gesetzlicher Mindestlohn «trifft» die Falschen, schränkt dabei die Unternehmen ein und führt gar zur Vernichtung von Arbeitsplätzen (ein Beitrag von: Myra Fischer-Rosinger, swissstaffing).
Die Mindestlohninitiative des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB) will einen gesetzlichen Mindestlohn von 22 Franken pro Stunde beziehungsweise 4000 Franken pro Monat (bei 42 Wochenstunden) in der Verfassung festschreiben. Die Initianten begründen ihr Vorhaben mit dem Umstand, dass in der Schweiz heute 400 000 Beschäftigte weniger als 22 Franken pro Stunde verdienen. Bei diesem Betrag liege aber die so genannte Tieflohnschwelle. Aus Sicht des SGB darf die Lohngestaltung deshalb nicht alleine dem Markt überlassen werden, weil sonst die Entlöhnung in zu vielen Fällen nicht fürs Leben reiche.
Armut richtig messen
Doch was genau ist eine Tieflohnschwelle? Gemäss Bundesamt für Statistik (BFS) gelten sämtliche Saläre als Tieflöhne, die weniger als zwei Drittel des Bruttomedianlohns betragen. Im Jahr 2008 lag dieser Zwei-Drittel-Schwellenwert bei rund 4000 Franken pro Monat (bei 42 Wochenstunden). Die Tieflohnschwelle ist somit eine normativ festgelegte, statistische Grösse, die etwas über die Einkommensverteilung aussagt.
In der westlichen Welt scheint heute eine Abweichung von einem Drittel vom Median als maximal annehmbare Ungleichheit zu gelten.
Die OECD und EU verwenden ähnliche (leicht tiefere) Schwellenwerte für ihre Armutsdefinition (50 Prozent beziehungsweise 60 Prozent). Der Lohn, den eine einzelne Person bezieht, sagt allerdings nur wenig über das Wohlstandsniveau aus, das dieser Mensch geniesst. Der Lebensstandard ist vielmehr von der Haushaltssituation einer Person abhängig.
- Entscheidend ist, wie viele Personen der Haushalt umfasst und
- von wie vielen zusätzlichen Einkommensquellen eine bestimmte Person beziehungsweise der Haushalt lebt.
Solche Quellen sind zum Beispiel eine mitverdienende Partnerin oder ein mitverdienender Partner oder in gewissen Fällen auch staatliche Sozialtransfers wie Prämienverbilligungen für die Krankenkasse.
Armut beziehungsweise Reichtum lassen sich darum nicht einfach vom Lohn einer Einzelperson ableiten.
Das Lohnniveau einer einzelnen Person ist nur eine – wie wir nachstehend zeigen sogar sehr schlechte – Annäherung an den Lebensstandard. Wie aber lässt sich Armut messen? Armut hat sowohl einen absoluten als auch einen relativen beziehungsweise sozialen Aspekt. Wie viel ein Mensch fürs (Über-)Leben braucht, ist die eine Frage. Die andere ist, was sich eine Person leisten können muss, um sich sozial nicht ausgegrenzt zu fühlen. Wo Armut beginnt, ist deshalb eine partiell subjektive Frage. Trotzdem muss sie in einem Sozialstaat wie der
Schweiz behördlich und nach möglichst objektiven Kriterien beantwortet werden. In der Schweiz setzt sich die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) damit auseinander. Sie hat einen Grundbedarf festgelegt, wozu die Wohnkosten, die medizinische Grundversorgung sowie ein materielles Minimum für den Lebensunterhalt zählen. Dieser Grundbedarf bildet grosso modo das absolute Existenzminimum. Als Richtgrösse für die Berechnung der Sozialhilfeleistungen gilt indes das soziale Existenzminimum, das auch eine minimale soziale Integration ermöglichen soll (gelegentliche Einladungen, Kinobesuche usw.).Das SKOS-Existenzminimum lag im Jahr 2008 für einen Einpersonenhaushalt bei 2300 Franken und für ein Paar mit zwei Kindern bei 4800 Franken.
Will man nun den Lebensstandard einer Person beziehungsweise eines Haushalts bestimmen, muss man dieses Existenzminimum dem Haushaltseinkommen gegenüberstellen. In der Lesart des BFS gilt in der Schweiz deshalb als arm, wessen Haushalts einkommen – definiert als Erwerbseinkommen und /oder Sozialtransfers – nach Abzug der Sozialversicherungsbeiträge und der Steuern unter dem SKOS-Existenzminimum zu liegen kommt.
«Der Mindestlohn würde zu 87 Prozent Menschen zugute kommen, die nicht unter Armut leiden.»
Erwerbsarmut – eine spezifische Form der Armut
Ungefähr 55 Prozent der in dieser Weise als arm definierten Bevölkerung im Erwerbsalter arbeiten mindestens eine Stunde pro Woche und leben in einem Haushalt, dessen Mitglieder zusammen mindestens 36 Stunden pro Woche arbeiten. Trotzdem erzielen sie damit (inklusive allfälliger Sozialtransfers) ein Haushaltseinkommen, das unter ihrem Existenzbedarf liegt. Das BFS bezeichnet diese Menschen deshalb als Working Poor. Laut Berechnungen des BFS gab es in der Schweiz im Jahr 2008 rund 118 000 Working Poor, was 3,8 Prozent der Bevölkerung im Erwerbsalter entspricht. Die Working-Poor-Quote reagiert mit einer gewissen Verzögerung auf die Konjunktur. Sie könnte bis heute somit wieder etwas angestiegen sein, pendelt seit dem Jahr 2005 aber relativ stabil um 4,3 Prozent (
).Ein gesetzlicher Mindestlohn «trifft» die Falschen.
Grafik 2 – Geringe Überschneidung von Tieflohnbezügern und Working Poor). Sie sind aber dennoch arm, weil sie höhere Lebenshaltungskosten haben und / oder ohne Zweitverdienst auskommen müssen. Mit der Einführung des vom SGB geforderten Mindestlohns wäre somit zwei Drittel der Working Poor gar nicht geholfen. Anderseits sind nur 13 Prozent der gemäss SGB rund 400 000 Tieflohnbezüger – gemäss BFS sind es etwas weniger, nämlich 320 000 – gleichzeitig auch Working Poor (Grafik 2 – Geringe Überschneidung von Tieflohnbezügern und Working Poor). Die anderen 87 Prozent sind nicht von Armut betroffen. Sie erzielen zwar ein bescheidenes Arbeitseinkommen, haben aber geringe Lebenshaltungskosten, die durch diesen Lohn gedeckt werden können – zum Beispiel junge Menschen. Oder sie leben mit einer berufstätigen Person zusammen, mit deren Zweiteinkommen sie den gemeinsamen Lebensunterhalt bestreiten können. Eine gesetzliche Anhebung der Tieflöhne würde also in 87 Prozent der Fälle Menschen zugute kommen, die gar nicht unter Armut leiden – dabei aber gleichzeitig die Unternehmen einschränken beziehungsweise sogar zur Vernichtung von Arbeitsplätzen führen. Wo sich die Tieflohn- und Working- Poor-Phänomene überschneiden, handelt es sich häufig um Erwerbstätige ohne nachobligatorische Ausbildung. Die Hauptursache für deren Armut liegt im Strukturwandel, namentlich der Globalisierung der Märkte und dem technologischen Fortschritt. Beides hat dazu geführt, dass die Arbeitsanforderungen in der Schweiz gestiegen sind. Ein gesetzlicher Mindestlohn kann diesen Trend nicht rückgängig machen. Die Lösung dürfte viel eher in der beruflichen (Weiter-)Bildungsförderung liegen.
Würde also ein gesetzlicher Mindestlohn von 4000 Franken den Lebensstandard dieser Working Poor verbessern? Die Antwort lautet: kaum. Gemäss einer Studie des BFS beziehen nämlich zwei Drittel der Working Poor, also rund 80 000 Personen, einen Lohn, der über der Tieflohnschwelle liegt (Fazit : Fehlgesteuerte Giesskanne
Armut zu definieren, ist ein schwieriges Unterfangen, das sich nicht vollständig von normativen Bewertungen entkoppeln lässt. Versucht man die Armut annäherungsweise zu messen, stellt man unweigerlich fest, dass ein gesetzlicher Mindestlohn ein ungeeignetes Mittel ist, um sie zu reduzieren. Er würde Tausenden von Erwerbstätigen in der Schweiz, die bedürftig sind, nicht helfen und gleichzeitig – unter riskantem Eingreifen in die Marktkräfte – unzähligen Menschen zufliessen, die gar nicht unter Armut leiden.