Aug 23

Zwischen Blindflug und Paranoia – Innovation in der ausgeweiteten Kampfzone.

Author: Betty Zucker

«Ich fühle mich verfolgt», murmelte neulich einer meiner Kunden, und seine sonst so offenen, blauen Augen waren fast zugekniffen. Seine aussergewöhnlich lange Vertragsverlängerung für fünf Jahre als CEO liegt seit zwei Wochen auf seinem Tisch. Unterschrieben hat er sie noch nicht (ein Beitrag von: Betty Zucker).

«Ich weiss nicht, ob ich noch der richtige Mann bin. Halten meine Nerven das aus? Kann ich noch Schritt halten? Auch mit den Jungen, die voller Elan voran stürmen, wie es sich gehört, die Druck machen nach oben.» Er sorgt sich nicht mehr über die Rendite seines Kapitals, sondern darüber, ob er das Kapital überhaupt noch zurückbekommt. Darüber hinaus beunruhigen ihn Cyber-Kriminalität, fingierte E-Mail- Stränge, Schweigegelder, tückische Medienkampagnen, listige Klagestrategien. «Der gute Stil hat schon lange das Haus verlassen» konstatiert er.

Betty Zucker, Autorin dieses Beitrages

«Und die Politiker denken in nationalen Wählerschaften, unsereins denkt in globalen Märkten. 90 % unserer Kunden und 70 % unserer Produktion sind über die Welt verstreut. Das ist ein Riesenunterschied im Denken! Das kann nicht gutgehen.» Die neue Welt-Unordnung, das Netz der Netze mit diffusen Eigendynamiken, in denen so mancher Frühling kein Sommer und aus manchem Ausrutscher ein Absturz wird, all das schlägt ihm auf den Magen, er fühlt sich fast hilflos in dieser Gemengelage. «Und die Chinesen! Die haben mit ihrer langfristigen und konzertierten Strategie eine ‚Dealpower‘, die unseren Verhandlungsstrategien völlig überlegen ist. Die Chinesen mit amerikanischen Jus-Studium, die sind die schlimmsten!» brummelt er weiter in die Stoppeln seines silbrigen Dreitagebarts.

Viele Deals werden als Kampf gesehen, denn «entweder man bekommt das Geschäft oder nicht. Und oft kämpfe ich nicht nur mit der Konkurrenz, sondern auch mit dem eigenen Verwaltungsrat. Die kapieren einfach nicht, was gespielt wird. Sie haben über chinesischen Machtstrategien zwar gelesen, aber verstanden, geschweige denn anwenden, vergiss es.» Mein leiser Hinweis, dass die Welt nicht so oft untergehe, ging völlig unter.

Ein Zierfisch im Aquarium

Er schwimmt, wie so mancher seiner Kollegen und Kolleginnen, einsam wie ein Zierfisch im Aquarium. Der Opportunismus ist erbarmungslos, die Allianzen fürs nächste Quartal ebenso wie die Rache auf den ersten Blick, ganz abgesehen von den Tagen des jüngsten Gerüchts. Dazu kommt der Anspruch auf Nachhaltigkeit und Transparenz – doch bewertet und geschätzt wird er im Quartal – und die aktuelle Perspektive ist zwei Wochen in die Zukunft. Erfolg scheint wichtiger als Ehrlichkeit und Kosten wichtiger als Kunden. Geheimnisse und Geheimdiplomatie waren und sind immer noch notwendig und lukrativ für das Geschäft. «Unverhoffte» Coups und «Beschleunigungsgebühren» (acceleration fees) unterlaufen die geforderte Durchschaubarkeit. Diese Unterschiede zwischen Anspruch und Wirklichkeit verlangen ein Fassadenmanagement nach aussen und strapazieren. Doch: «Es gehört dazu – halt noch ein paar tickende Zeitbomben!» seufzt er.

Gespenster gesichtet

All das führt in den Topetagen nicht gerade zu Agenten der Gelassenheit. «Fürchte Dich» wird als Botschaft empfunden. Angst wird zur zentralen Wahrnehmungsform und es herrscht der Impuls der heroischen Abwehr eines vermeintlichen Angriffs dieser Welt. Manchmal werden Gespenster bekämpft. So geschehen beim französischen Autobauer Renault. Vor rund einem Jahr machten die Chefs nach zwei Monaten Wirbel um eine scheinbare chinesische Werksspionage kleinlaut einen Rückzieher. Der Vorfall hielt Frankreichs Regierung, die 15 % der Aktien hält, die Autoindustrie und Renault selbst wochenlang in Atem: hochrangige Manager eines internationalen Autokonzerns als Maulwürfe chinesischer Bösewichte, geheime Schmiergeldkonten in der Schweiz, Geheimnisse modernster Spitzentechnologie verscherbelt an die chinesische Konkurrenz. Welch ein Malheur! Industrieminister Éric Besson diagnostizierte einen «ernsthaften» Fall von Industriespionage und «der Begriff des Wirtschaftskrieges» sei angemessen. Der Dämon war aus der Flasche und der vermeintliche Spionageskandal wurde zur Staatsaffäre. Doch die chinesischen Hintermänner stellten sich als reine Fiktion und Illusion, als Hirngespinst heraus. Resultat: Verirrungen. Politische Spannungen, Spitzenleute wurden entlassen, Gerichte und Geheimdienste beschäftigt, Imageverluste, nicht zu reden von den internen Zerrüttungen, wenn Mitarbeiter als Verräter tituliert werden. «Are you paranoid?» hört man immer öfter in den oberen Etagen, «was bereitet dir schlaflose Nächte?“ oder beschönigende Phrasen wie «are you concerned?» («bist du besorgt?») – und tatsächlich, es gibt viele gute Gründe dafür.

Alarmiert in den Blindflug

Doch ständige Alarmiertheit, verbunden mit einer Datenflut und Tyrannei der Eile – es wird selbst immer schneller gesprochen – ist nicht zu verwechseln mit «Alertheit», dieser wachsamen geistesgegenwärtigen Aufmerksamkeit. Im Gegenteil. Sie führt zu einem Wegdrücken der Warnungen oder Überreagieren – und beides ist kein wohl sortiertes strategisches Agieren. Ständige Alarmiertheit verhindert mentale Distanz, kippt das eh schon Kurze ins Verkürzte, kann einen runter ziehen wie ein Strudel und macht müde. Sie führt zu Abstumpfung, Dumpfheit und Blindheit. Der reissende Strom der Alarmsignale wird zum Rauschen. Im Schummerlicht der Gewöhnung verschwimmen die Ereignisse, Phänomene und Singularitäten gehen unter, sie werden nicht erkannt. Im alltäglichen «Absurdistan», im «Courant anormal», wird die Fähigkeit wahrzunehmen quasi immunisiert – auch gegenüber den Frühindikatoren von Gefahren und Chancen. Die entstehenden Turbulenzen sind in der Regel nicht, wie so oft behauptet, unerwartet. Sie sind unbemerkt. Vive la différence.

Zwischen den Zahlen lesen

«Alertheit» kann man entwickeln. Man kann ein fast stabiler Wirbel inmitten des Flusses werden, an dem der Strom sich reibt, stolpert, kippt und schäumt, bzw. einfach auffällt. Allerdings braucht es dafür das Bereitsein. Im Englischen spricht man von «readiness», was eng mit dem Wort «read» verbunden ist, dem Lesen. Es geht um das Bereitsein, die Ereignisse zu lesen. Die Fähigkeit zu lesen ist nicht nur (Zahlen-, Regel-)Genauigkeit und Scharfsinn der Textinterpretation bzw. Analyse. Ein guter Leser liest zwischen den Zahlen. Mit einem sechsten Sinn, in Tuchfühlung mit den Menschen und der Bewegung. Das Englische macht die Verbindung von «motion» und «emotion» explizit. Ausrutscher und Fastfehler können als wertvolle Hinweise auf das Ganze erkannt werden, anstatt sie unter den Tisch zu kehren nach dem Motto «noch mal Glück gehabt, Schwamm drüber und vorwärts». Der kluge Leser ist bereit, gewappnet und gewillt, nichts für bare Münze zu nehmen, die Zeichen, den Schaum als Hinweise zu lesen. Die Intuition findet, der Scharfsinn weiss die Gründe. Der Bereite lässt sich nicht nur in Abenteuer ein sondern er hält Ausschau danach. Diese offensive Haltung ermöglicht eine umfassendere Wahrnehmung und begrenzt irrlichternde Befürchtungen. Beim Lesen geht es nicht nur um Information, sondern um eine provisorische und vorbereitende Orientierung auf die Zukunft hin. Dabei gilt es, mit mehreren Interpretationen zu spielen und für den Zufall, für Brüche und Kurskorrekturen bereit zu sein, kurz: Alert macht agil macht stabil.

Wunderfitz

Bereit sein wie ein Wunderfitz, neugierig, unerschrocken und unbeirrt. Der Wunderfitz spürt, dass er eine andere Mentalität als die Mehrheit seiner Kollegen und Kolleginnen hat und weiss auch, dass er sich von Zeit zu Zeit vom Strom der Ereignisse abkoppeln muss, um geistesgegenwärtig anzukoppeln. Dann kann er eine Menge von Anlegestellen und günstigen Gelegenheiten erkennen, sie mit Kraft und Geschwindigkeit ergreifen – und dranbleiben. Es ist kein Zufall, dass das Wort Turbulenz mit dem lateinischen Wort turba zusammenhängt. Es steht für Menge und Menschenmenge, die naturgemäss für Überraschungen, Zufälle, Entdeckungen sorgen, kurz: den Treibern der Weiterentwicklung. Oder: Innovation in turbulenten Zeiten.