Jul 5

Arbeitsrecht: Krankheit schützt nicht mehr in jedem Fall vor Kündigung.

Autor: PersonalRadar

In einem spektakulären Urteil hat das Bundesgericht den Kündigungsschutz für Arbeitnehmer, die wegen arbeitsplatzbezogener Erkrankungen ausfallen, dramatisch verändert.

Diese Entscheidung könnte die bisherige Praxis in der Schweiz komplett auf den Kopf stellen und Arbeitgebern neue Möglichkeiten eröffnen, sich von erkrankten Mitarbeitern zu trennen.

Das bisherige Modell: Schutz mit Ablaufdatum

Bundesgericht in Lausanne (Bildquelle: www.wikipedia.org)

Bisher war es in der Schweiz gang und gäbe, dass Arbeitgebende ihre Angestellten nicht während einer Krankheit entlassen durften. Ein gesetzlich festgelegter Kündigungsschutz, die sogenannte Sperrfrist, garantierte eine gewisse Sicherheit. Diese Frist richtete sich nach der Dauer der Anstellung: Im ersten Jahr lag sie bei 30 Tagen, bis zum fünften Jahr bei 90 Tagen und ab dem sechsten Jahr bei 180 Tagen. Während dieser Zeiten war es Arbeitgebern untersagt, kranken Mitarbeitenden zu kündigen.

Das neue Urteil: Kündigungsschutz in Gefahr

Das Bundesgerichtsurteil hat diese Regelung nun erheblich gelockert. Wird eine Krankheit als ‘arbeitsplatzbezogene Arbeitsunfähigkeit’ eingestuft, entfällt der Kündigungsschutz. Diese Entscheidung betrifft vor allem Krankheiten, die durch Konflikte am Arbeitsplatz verursacht werden, wie Mobbing oder stressbedingte Erkrankungen. In solchen Fällen können Arbeitgebende nun ohne Rücksicht auf die bisherigen Sperrfristen handeln und Mitarbeitende entlassen. Bei allgemeinen und schwerwiegenden Erkrankungen wie einer schweren Depression oder einem Burn-out bleibt der Schutz bestehen. Doch was bedeutet ‘arbeitsplatzbezogene Arbeitsunfähigkeit’ genau? Hier handelt es sich um Krankheiten, die direkt durch das Arbeitsumfeld verursacht wurden und in einem anderen beruflichen Umfeld möglicherweise nicht auftreten würden.

Hier geht es im Detail zum Bundesgerichtsurteil BGer 1C_595/2023 vom 26. März 2024:

(Bildquelle: www.bger.ch)

Das Bundesgericht hatte sich im Entscheid 1C_595/2023 vom 26. März 2024 mit der Entlassung eines Stabsmitglieds, das jahrelang systematisch und offensichtlich gezielt falsche Informationen über seine Nebentätigkeit im Vorstand des Vereins Patrouille des Glaciers geliefert und die Schweizer Armee durch eine Aussage auf LinkedIn in Misskredit gebracht hatte, auseinanderzusetzen und erachtet die Kündigung als rechtmässig. Dabei hatte das Bundesgericht die Gelegenheit, sich mit der Anwendung von Art. 336c OR im Krankheitsfall zu befassen.

 

Gemäss Bundesgericht ist Art. 336c OR trotz Krankheitsfall dann nicht anwendbar, wenn sich die Gesundheitsbeeinträchtigung als so unbedeutend erweist, dass sie die Besetzung eines neuen Arbeitsplatzes in keiner Weise verhindern kann, was die Rechtsprechung annehme, wenn die Arbeitsunfähigkeit auf den Arbeitsplatz beschränkt ist (vgl. hierzu auch Facincani/Bazzell, in: Etter/Facincani/Sutter (Hrsg.), Arbeitsvertrag, Art. 336c N 14):

 

5.1. A teneur de l’art. 31a al. 1 OPers, en cas d’incapacité de travailler pour cause de maladie ou d’accident, l’employeur peut, une fois la période d’essai écoulée, résilier les rapports de travail de manière ordinaire au plus tôt pour la fin d’une période d’incapacité de travail d’au moins deux ans. Cette disposition reprend les principes dégagés à l’art. 336c CO en cas de résiliation en temps inopportun du contrat de travail. Cette dernière disposition a été introduite non pas du fait que l’état du travailleur au moment de la réception de la résiliation l’empêcherait de chercher un autre emploi, mais parce qu’un engagement par un nouvel employeur à la fin du délai de congé ordinaire paraît hautement invraisemblable en raison de l’incertitude quant à la durée et au degré de l’incapacité de travail (Message du Conseil fédéral du 9 mai 1984, in FF 1984 II 628).  

 

Cette disposition est inapplicable en cas de maladie dans la seule hypothèse où l’atteinte à la santé s’avère tellement insignifiante qu’elle ne peut en rien empêcher d’occuper un nouveau poste de travail (ATF 128 III 212 consid. 2c; en dernier lieu arrêt 4A_587/2020 du 28 mai 2021 consid. 3.1.1), ce que la jurisprudence retient lorsque l’incapacité de travail est limitée au poste de travail (arrêt 4A_391/2016 du 8 novembre 2016 consid. 5; STÉPHANIE PERRENOUD, in Commentaire romand CO, 3 e éd. 2021, ad art. 336c CO N 36; PORTMANN/RUDOLPH, in Basler Kommentar OR, 7e éd. 2020, ad art. 336c CO N 6). Cette jurisprudence est appliquée à la fonction publique sous la notion de „arbeitsplatzbezogene Arbeitsunfähigkeit“ (arrêt 8C_451/2013 du 20 novembre 2013 consid. 6.3). (Quelle: https://www.arbeitsrecht-aktuell.ch/de/2024/05/23/keine-sperrfrist-bei-arbeitsplatzbezogener-arbeitsunfaehigkeit/)

Arztzeugnisse und ihre Bedeutung

Ein bedeutender Aspekt dieses Urteils ist die Rolle der Arztzeugnisse. Heutzutage stellen Ärzte und Ärztinnen häufiger Diagnosen aus, die explizit eine ‘arbeitsplatzbezogene Krankheit’ nennen. Dadurch wird es für Arbeitgebende leichter, diese Diagnosen zu nutzen, um eine Kündigung durchzusetzen. Unternehmen können jedoch auch die Gutachten ihrer Vertrauensärzte heranziehen, um die Angaben der Hausärzte zu überprüfen und gegebenenfalls anzufechten. Bei widersprüchlichen Gutachten muss dann ein Gericht entscheiden.

Mögliche Missbräuche und Schutzmechanismen

Das Urteil öffnet Türen für mögliche Missbräuche. Ein Vorgesetzter könnte gezielt einen Mitarbeiter mobben, um diesen zur Erkrankung zu treiben und dann ohne Sperrfrist zu entlassen. Sachverständige weisen jedoch darauf hin, dass solche Fälle selten sind und betroffene Arbeitnehmer die Möglichkeit haben, eine ‘missbräuchliche Kündigung’ geltend zu machen. Hier greift ein weiterer Schutzmechanismus, der eine Entschädigung von bis zu sechs Monatslöhnen vorsieht.

(Bildquelle: www.freepik.com)

Finanzielle Absicherung bei Krankheit

Trotz des gelockerten Kündigungsschutzes haben Angestellte weiterhin Anspruch auf Lohnfortzahlung bei Krankheit. Viele Unternehmen verfügen über eine Krankentaggeldversicherung (KTG), die bis zu 720 Tage lang 80 Prozent des Lohns deckt. Ohne eine solche Versicherung ist der Arbeitgeber verpflichtet, den Lohn für eine begrenzte Zeit weiterzuzahlen, die jedoch deutlich kürzer ausfällt als bei einer Versicherung.

Ein Blick in die Zukunft

Das Urteil wirft zahlreiche Fragen auf. Was passiert bei unfallbedingten Absenzen? Könnte der Kündigungsschutz auch hier wegfallen, wenn die gesundheitliche Einschränkung nur geringfügig ist und der Mitarbeiter sich um eine andere Stelle bewerben könnte? Sachverständige halten dies für theoretisch möglich, merken jedoch an, dass die Literatur vor allem auf psychische Belastungen abzielt.

Fazit: Ein Paradigmenwechsel im Arbeitsrecht

Das Urteil des Bundesgerichts stellt einen Paradigmenwechsel im schweizerischen Arbeitsrecht dar. Es lockert den Kündigungsschutz erheblich und gibt Arbeitgebern mehr Flexibilität bei der Entlassung erkrankter Mitarbeiter. Diese neue Praxis könnte dazu führen, dass Arbeitnehmer verstärkt unter Druck geraten und sich fragen müssen, ob ihre Krankheit wirklich ‘arbeitsplatzbezogen’ ist. Gleichzeitig bleibt abzuwarten, wie häufig Unternehmen von dieser neuen Möglichkeit Gebrauch machen und ob sich dies in der Praxis als fair und gerecht erweist.

Mögliche Konsequenzen und Herausforderungen

Die neue Regelung könnte in der Realität vielfältige Auswirkungen haben. Einerseits könnte sie dazu führen, dass Arbeitnehmende vermehrt unter Druck stehen und sich in einer prekären Lage befinden, wenn sie krankheitsbedingt ausfallen. Andererseits könnte dies auch dazu führen, dass Arbeitgebende stärker darauf achten, ein gesundes Arbeitsumfeld zu schaffen, um Konflikte und stressbedingte Erkrankungen zu vermeiden. Ob das neue Urteil also langfristig zu einer Verbesserung oder Verschlechterung der Arbeitsbedingungen führt, bleibt abzuwarten.

Schlusswort

Dieses Urteil des Bundesgerichts markiert einen tiefen Einschnitt in den bisherigen Kündigungsschutz für erkrankte Arbeitnehmende in der Schweiz. Es zeigt, wie dynamisch und anpassungsfähig das Arbeitsrecht sein kann und dass auch in der Rechtsprechung immer wieder neue Wege beschritten werden. Arbeitnehmende und Arbeitgebende sind gleichermassen gefordert, sich an die neuen Gegebenheiten anzupassen und in ihrem jeweiligen Interesse das Beste daraus zu machen.