Funktionaler Analphabetismus im Management. Oder: lebenstauglich.
Das Topmanagement fällt weitreichende Entscheide für das Leben von vielen. Nur das Alltägliche im Leben geht vielen Topmanagern nicht so leicht von der Hand. Wer sich von der «Strasse» entfernt, dem droht der Druck der Strasse (ein Beitrag von: Betty Zucker).
Beiläufig erzählte mir neulich Max, ein Topmanager eines internationalen Telekomunternehmens, dass kürzlich bei der Ankunft am frühen Morgen am Flughafen in Stockholm sein Fahrer nicht wie üblich wartete. In der SMS seines Assistenten stand, er möge sich doch bitte einen Wagen mieten. Er stellte sich bei rent a car in die Schlange und in der ungewohnten Solitude des Wartens fuhr es ihm durch den Kopf: Wie mache ich das nur? Habe ich alles Notwendige dabei?
Seit Jahren war er nicht mehr in dieser Situation, und privat erledigt das immer seine Frau. Er kam sich plötzlich ziemlich «lebensuntauglich» vor und meinte «seine Resozialisierung» fände jeweils in der Familie statt. Diese Stichworte liessen mich aufhorchen. Automieten ist ja keine Hexerei. Ist Max ein Einzelfall? Beim nächsten Geschäftsessen mit einem seiner «Kollegen» einer internationalen Versicherung lenkte ich das Gespräch zwischen den Shrimps und dem Sorbet auf dieses Thema und siehe da, Max bekommt Gesellschaft. «Ja, das ist das Schlimmste, ich hätte noch nicht mal die notwendigen Euros in der Tasche. Alles, was nicht mit Karte bezahlbar ist, geht gar nicht.»
Konzentrationsschredder
Der persönliche Assistent kann ein persönlicher Leistungsverstärker sein. Er kümmert sich neben den Projekten um fast alles, rund um die Uhr, um die Welt und um das Leben. Ob es um das Geburtstagsfest für die Frau in London, das Mitbringsel von Sprüngli für die Einladung am Abend oder ums Zähmen widerspenstiger Computer und Handys geht. Im Laufe der Zeit wird dies für Manager verständlicherweise zur gefühlten Normalität. Dabei ist es nur eine Gewohnheit. Mit dem «normalen» Leben, dem Leben der Mehrheit der Mitarbeiter oder Kunden und seinen Anforderungen, hat das kaum noch etwas zu tun. Mit ihrer eigenen familiären Herkunft oft ebenso wenig. «Ich darf meiner Familie gar nicht erzählen, wie viel ich verdiene, und für alte Schulfreunde wohne ich am oberen Zürichsee (statt in Wollerau)», meinte ein anderer Kollege. Der Aufstieg bringt eine doppelte Distanzierung – mit oft gleichzeitig erlebter Einsamkeit und einem Suchen nach Perspektiven. Doch der normale Wahnsinn «da oben» mit seinem nervtötenden Geprassel muss verkraftet werden. Der Seelenverschleiss, die Müdigkeit und die Gefahr im Feuer der Gefechte gebrutzelt zu werden, sind hoch: Blackberry, zwei bis drei grössere Jetlags im Monat; hohe, oft widersprüchliche Ziele, die ein Dilemmamanagement erfordern; kurzsichtige Investoren; endlose ermüdende «conf calls»; auf Wellen reitend, die jeden Moment zusammenschlagen können. Dabei sollten sie nach aussen stets ein reputierliches Gesicht zeigen, auch wenn sich gerade etwa die Frau mit den Kindern auf und davon macht. Das alles summiert sich zum managerialen Konzentrationsschredder. Um in dieser Gemengelage die Schärfe des Geistes zu erhalten braucht es «Fokus, denn es geht gar nicht anders. Das System schwitzt einen sonst gnadenlos raus», grantelt Max. Selbstverständlich gehört eine effektive Zeitnutzung dazu. Zeit ist Geld und es wird als schlichte «make or buy»-Entscheidung bzw. als funktionale Arbeitsteilung betrachtet. Vielleicht ist es auch ökonomisch legitimiertes Statusverhalten im Prestigewettbewerb. Telefonieren oder Aktenstudium erscheinen jedenfalls wertvoller als selber seinen Wagen zu steuern, und als Businessclass Passagier steigt man zehn Minuten früher aus.
Street smartness
Fokus halten. Bloss nicht ablenken, keine Ineffizienzen. Das Geheimnis der persönlichen Wirksamkeit liege in der Delegation und der «rationalen Ignoranz». So nennen es die Kosten- Nutzen-Rechner. Zur Beruhigung. Doch wie wirkt diese Beruhigung? Sind Manager deswegen wirklich effektiver? Wann wird der Fokus zum Tunnelblick? Unterstützt dieser funktionale Analphabetismus das Vertrauen in das Management? Welche Signale senden sie, wenn sie eine Verbindung am Festtelefon nicht weiter verbinden können oder wenn die Extra-Kosten des betrieblichen Garagenservice, für extra breite Reifen, kolportiert werden? «Kann der den Karren aus dem Dreck ziehen? », fragen sich viele «und denkt der an sich oder an die Firma?»
Niemand wird so intensiv beobachtet wie diese Damen und Herren und die Wahrnehmung ist zentral für das prekäre Pendeln zwischen Wirken und Verwirken. Glaubwürdigkeit und Vertrauen zerfallen leicht. Die Macht wird ausgeschüttet statt ausgeschöpft.
Darüber hinaus schöpfen neue Geschäftsmodelle, Strategien, Produkte, kurz, neue Ideen nur Werte wenn «it hits the road». Um Anliegen und Realitäten von Kunden, Mitarbeitern und dem «Mann auf der Strasse» auch nur annähernd zu verstehen und eine «roadmap » erfolgreich umzusetzen, braucht es Strassenkenntnisse – bevor der Druck der Strasse droht. Die Angelsachsen reden von «street smartness», wenn sie gewitzt und gewieft sein und Köpfchen haben meinen. Zu glauben, solches Wissen gewinne man auch mit dreifarbigen Excel-Tabellen oder animierten Power-Point-Präsentationen in abgedunkelten Sitzungszimmern, führt zur Selbstüberschätzung. Selbstüberschätzung aus Ignoranz.
Effizienzbalancen
Für das Neue braucht es ab und zu etwas ganz anderes. «Musterunterbrechung» nennen es die Fachleute. Um das Stammhirn anzuregen, den Geist für neue Gedanken zu lockern. Es ist wichtig für Kreativität und Produktivität, und diese gehören auch zu den Mantras der Effizienz. Es braucht sozusagen einen flexiblen Fixtermin für die «Effizienzbalance». Einen Schnitt für neue Schnittmuster, einen Bruch für den so ersehnten Durchbruch. Das gilt für «die da oben» ebenso, wie es im vermeintlich Banalen anfängt. Einfach mal einen kleinen Abstecher ins normale Leben unternehmen. Frische Luft schnappen um zu wittern, was in der Luft liegt. Flüge suchen oder buchen, morgens um 7.30 Uhr Tram fahren oder seinen BMW selber steuern – aus Freude am Fahren. Das Managerleben ist schon ernst genug und andere Genüsse führen zu anderen Gedanken. Gehört «Lebenstauglichkeit» zum neuen Anforderungsprofil für Topmanager? Erkennbar an: fährt sein Auto selber in die Waschstrasse; kümmert sich um kleine Reparaturen im Haus; bringt den Hund zum Tierarzt und kauft Brot und Butter ein.