Okt 20

Leben auf Treibsand. Von ausgelaugten Topshots und vom Traum, etwas mit eigener Kraft aufzubauen.

Author: Betty Zucker

Karrierestrategien in der Krise: Viele Führungskräfte strampeln wie Mäuse in der Tretmühle und sind letztlich nur noch mit ihrem eigenen Absturz beschäftigt. Sieben Regeln, mit denen dieser todsicher gelingt (ein Beitrag von:  Betty Zucker).

«Was ist die Steigerung von depressiv?» fragte mich neulich ein Kunde. Mit Blick auf den Abgrund balancieren viele Führungskräfte derzeit auf der Kreditlinie und sind im Survival Mode. Es geht um Sicherheit und die Karrierestrategie, will heissen: die Sicherung des Abstiegs, um den Absturz zu verhindern. Dazu gesellen sich geheime Zweifel am System. Das alles bewegt bzw. lähmt sie, denn in diesen Kreisen wird selten darüber gesprochen. Und nicht jeder kann sich wie Scheich Raschid al Maktoum, der Herrscher und rastlose Schöpfer des neuen Dubais, angesichts der Misere in die Einsamkeit der Wüste zurückziehen, um dort Zuflucht und Trost in der Poesie zu suchen. So die Legende.

Glamour-Restentwurf von Leben und Ich

Die Rede ist von der Angst vor dem Versagen, vor dem Verlust von Kontrolle, Job, Status und Orientierung, ja gar um die Identität. So manche Topshots erleben, dass sie ihre Lebensmodelle zu Geschäftsmodellen verschlankten. Die Familie wurde zum Zulieferer, die Freizeit zu Networking, und Freunde wandelten sich zu strategischen Beziehungspartnern. Kurz: Die Karriere entpuppte sich als eingedampfter Glamour-Restentwurf von Leben und Ich. Es scheint, als ob das Ich, so wie Dubai, auf Pump und Sand gebaut ist. Geliehen sind Status und Identität, wobei man zusätzlich noch Klumpenrisiken eingegangen ist. Und zwar gleich mehrere: Man besitzt viele, allzu viele firmeneigene Aktien und Optionen – als ob das Arbeitsplatzrisiko nicht schon hoch genug wäre –, ist fachlich oft hoch spezialisiert, bewältigt nicht selten eine 60-70-Stunden-Woche und geht auch noch mit den Kollegen zum Sport.

Treffen die kumulierten Risiken ein, könnte man fast von einem individuellen Grossrisiko sprechen. Sich in diesen Fällen auf jemand anderen verlassen zu müssen, kann ungut ausgehen. Deshalb ist Vorsorge angesagt, die eigenen Ressourcen, die «Eigenmittel» sozusagen, zu stärken. Karrierestrategien brauchen ein Risikomanagement, ein Karriere Hedging, damit Manager stabiler und handlungsfähiger bleiben.

Damit kommen wir zu den sieben Regeln für das Misslingen eines Karriere Hedging:

1. Arbeiten Sie 60 – 70 Stunden pro Woche …

… damit Sie frühmorgens «sick & tired» in die Federn sinken, ohne Kraft und Energie für irgend etwas – oft nicht mal zum Schlafen! Die Praxis zehrt, der Tag hat vierundzwanzig Stunden, und wenn diese nicht reichen, gibt’s ja noch die Nacht – das Leben als Top-Manager hat halt seinen Preis. Viele schlafen zu wenig, und das noch schlecht. Schlafmangel schadet der Gesundheit, und auf längere Sicht klappt überhaupt nichts mehr, weder im Bett noch sonstwo. Man macht Fehler, geht den Weg des geringsten Widerstandes, ist nicht kreativ und mag nicht mehr. «Ich denke nicht sehr visionär, denn ich bin von früh bis spät hinter meinen Baustellen her. Ständig muss ich antreten, auftreten, antreiben, überzeugen, und am Ende der Woche bin ich müde und oft frustriert», meint ein CEO einer großen Versicherung. «Manchmal frage ich mich: Gibt es neben meinem Superplan eigentlich auch etwas anderes? Ich bin so fixiert auf das eine, dass ich das andere kaum mehr wahrnehmen kann.» Dazu kommt der ständige Hindernislauf durch die Realitäten des Alltags. Der Morgenstau, der Abendstau, die wöchentlichen Flüge nach London mit Uhr ablegen und Schuhe ausziehen, Computer auspacken und abends im Parkhaus kein Kleingeld für das Ticket haben. Schon Hannibal verlor in der Antike den Krieg, weil er nie eine Pause machte. Er hatte keine Zeit zum Nachdenken und Vordenken.

2. Verkehren Sie «unter sich» …

… auch nach der Arbeit, in der Fitness, im Sport, in den Clubs. Die meisten Informationen fliessen so in «schwachen», losen Netzwerkkontakten, also nicht unbedingt im engsten Kreis der Familie und Freunde. Beziehungen immunisieren Jobunsicherheiten. Die meisten finden einen Job oder Auftrag durch Netzwerke. Dabei sein reicht allerdings nicht: Es geht um Geben und Nehmen – in dieser Reihenfolge.

3. Schwimmen Sie im Strom!

Aussergewöhnliche Hobbies könnten andere Saiten zum Klingen bringen und andere Welten erschliessen, die man bei Gelegenheit nutzen, sozusagen zweckentdecken könnte. Aber auch da aufgepasst: Bitte nicht (wieder) falsch korrelieren und neue Klumpenrisiken entwickeln, zum Beispiel Weinbauern in der Toskana, mit Whisky handeln oder Segelturns chartern. Wer züchtet zum Beispiel Bonzais oder Königspudel, die in New York gerade hip sind?

4. Denken Sie lokal,regional, allenfalls national!

Wenige kommen auf die Idee, sich als ausgewiesene Experten in Dubai, Shanghai oder Mumbai zu orientieren. Dabei geht dort nicht nur die Sonne früher auf. Dort weht auch der Duft der grossen, weiten Märkte, und man kann die Globalisierung für die eigenen neuen Horizonte nutzen. Doch es ist ja so komfortabel, so schmuck hier. Stimmt. Aber was könnte es bringen? Neue Perspektiven für die eigenen Möglichkeiten? Agilität schafft Stabilität, und darauf spielt Barack Obama an, wenn er sagt: «The big house and the nice suits and all the other things that our money culture says you should buy, amount to a poverty of ambition.»

5. Konzentrieren Sie sich auf das Bestehende!

Sei es in Salärvorstellungen, im Beschäftigungsmodus, ja im Beruf. Der Wandel gilt vor allem für die anderen. Oder nicht? «Common Sense» ist nicht «Common Practice». Was «normal» ist, wird gerade revidiert, zum Beispiel sichere Banken, permanentes Wachstum oder Verlässlichkeit von Prognosen. Schon in früheren Krisen haben sich die Menschen umgeschult, sind ausgewandert in die «Neue Welt», oder sie haben bei Null wieder angefangen. Klar ist das einfacher gesagt als getan mit Kindern, Haus und Ferienhaus. Klar ist dies ungewiss und birgt Risiken. Klar ist aber auch, dass Anfang und Ankunft mit Zukunft möglich sind. Übrigens ist bei Null wieder anfangen eine geheime Sehnsucht von manchen. Ein Kunde meinte neulich: «Ich habe grossen Respekt vor Menschen wie den Trümmerfrauen damals in den zerbombten Städten. Ich habe die Bilder von Berlin im Kopf. Aus nichts haben diese Frauen zu sich gefunden und etwas aufgebaut aus eigener Kraft. Eigentlich träume ich von so einer Erfahrung – stattdessen bin ich hier nur ein kleines Rad am Wagen». Notabene: Dieser Herr ist Mitglied einer Geschäftsleitung.

6. Nehmen Sie’s bitte persönlich!

Hilfreich ist, die grösseren Kontexte der Turbulenzen, strukturell und kulturell, zu erkennen und anzuerkennen, dass man in der Regel viel mehr geschubst wird, als man schubst, und dass es einen Faktor Zufall gibt. Verständlicherweise kränkt das einerseits manche, weil das nicht so recht zum hoch gezüchteten Selbstverständnis von «Führungs(!) kräften» passt. Andererseits erleben sich viele trotz hoher Verantwortung und Lobpreisungen auf Front pages als ohnmächtig oder gefesselt. Oder anders herum: Sie lassen sich, je nach Perspektive, fesseln, ködern oder verführen: von LOAs (Limits of Authority), Audits, die dauernd überprüfen, ob man sich an SOX, Compliance Guidelines und Blueprints hält – und von den «Wurstzipfeln» vermeintlicher Sicherheiten und versprochener Karriereschritte. Man könnte auch von «betreutem Management» sprechen. Die wenigsten sehen sich in der Position, das System zu verändern. «Heute, nach zehn Jahren Politik und Matrix, bin ich in einem so engen Korsett, dass ich den «Reset Button» drücken möchte», konstatiert ein Mitglied der Geschäftsleitung aus der  Investitionsgüterbranche. «Diese Zwänge gehen mittlerweile an die Würde, kratzen an meinem Selbstrespekt. Ich bin hart geworden, kann gar nicht mehr weich sein, nicht mal zu meiner Ehefrau», bemerkt ein anderer aus der Versicherungsbranche, fühlt sich geschröpft und geköpft. Dann lieber in den erschöpften Depresso gehen, mit einer zuweilen etwas allzu hohen Dosis Selbstmitleid. Zweifeln ja. Verzweifeln? Wird man dann handlungsfähiger, wirksamer und attraktiver? Auf dem Arbeitsmarkt, im Arbeitsumfeld oder zu Hause?

7. Hoffen Sie auf bessere Zeiten!

Dies ist tricky: Einerseits gibt die Hoffnung den so notwendigen Lichtblick am Horizont, auch wenn das Wunderpotenzial begrenzt ist. Andererseits kann sie lähmen. Aber die Persistenz des Angenehmen, die simple Hoffnung, verführt einfach zum Verdrängen, Beschönigen und Bagatellisieren (Unkraut wird als frische Triebe oder eine Pleite als Liquiditätskrise gesehen) oder zum Abwarten – nicht nur an der Börse. Und schwupps landet man auf so tiefem Niveau, dass man nur noch verlieren kann und es vielleicht zu spät ist.

Realistische Träumer

Perspektiven über den Horizont von heute hinaus sind wichtig. Sie geben Orientierung, einen langen Atem und eine gewisse innere Stabilität. Sie ermöglichen auch eine einigermassen ruhige Hand am Steuer, wenn die Wogen hoch und höher gehen. Die wirksamste Aussicht ist, wenn einem selber ein Licht im Oberstübchen aufgeht. Statt Zukunft zu erleiden hat man die eigene Vorstellungen und Ideen von der Zukunft. Sie erzeugen Horizonte, sie geben Energie. Realistische Träume, jenseits von Illusionen oder Utopien. Realistische Träumer sind hellwach und schauen hin, erkennen oft in einen Mangel grosses Potenzial oder begehren mit Herzblut und Schärfe des Gedankens in der oft verwalteten und immer noch so bequemen Gewöhnlichkeit auf. Not macht eben erfinderisch.

In Anlehnung an ein chinesisches Sprichwort könnte man sagen: Wenn andere beim Aufziehen des Sturms Mauern bauen, bauen sie Windmühlen. Realistische Träumer erkennen Möglichkeiten und Gelegenheiten. Sie aktivieren, animieren und inspirieren. Realistische Träumer sind erfolgreich, weil sie – jenseits des Korsetts der Konventionen von Budgets,  Benchmarks und anderen Beiträgen zur Deckung von Checks – bei Kollegen und Partnern, Kunden und Mitarbeitern andere Saiten zum Klingen bringen. Sie entwickeln eine ganz besondere Stimmigkeit, erleben, was sie alles bewirken können. Dabei wird ihr allzu oft insgeheim zerzaustes Selbstvertrauen robuster.

Aber bei aller Liebe zu realistischen Träumern: Wir sind nicht naiv genug, um nicht zu wissen, dass Katzen Mäuse fangen müssen. Dass heisst: Träume im Management machen dann Sinn, wenn sie langfristig zum Vorteil des Return on Investment im weiten Sinne beitragen. Es sind diese Träume, die zum Mitmachen bewegen. Sie ermöglichen Engelskreise, sich gegenseitig in die Höhe schwingende Kräfte. Bringt das nach so manchen Teufelskreisen (wobei Teufel der Legende nach gefallene Engel sind) nicht den «Spirit», nach dem wir uns alle so sehnen? Traum und Wille Das Verführerische an der Marktwirtschaft, in den Augen mancher mit diabolischem Charme versehen, ist der «Traum und Wille, ein privates Reich zu gründen» (Joseph Schumpeter). Grosse Ideen können Grosses vollbringen. Viele Projekte, Entwicklungen und Firmen, die eine bessere Zukunft von vielen Menschen prägen, sind so entstanden. Sei es in Kultur, Wissenschaft, Politik und Wirtschaft. Die Zeiten sind gut. Auf wichtige und dringende Lösungen warten genug Fragen. Gleichzeitig sind heute Dinge möglich, die früher kaum einer zu träumen wagte. Unzählige Möglichkeiten warten auf Menschen, die nicht unter ihren Möglichkeiten bleiben wollen. Und dann eröffnen sich ganz neuartige Karrierestrategien.

Nicht mehr in temporär geliehenen und schnell vergessenen Rollen und Ichs eines Lebens für den Lebenslauf, sondern für Menschen, für die das «Laufband Leben» ein einmaliger Weg ist. Let’s go for it!