Mai 7

Das Paradox des Arbeitsmarktes.

Author: swissstaffing

Die Arbeitslosigkeit steigt, aber nach wie vor klagt ein Viertel der Schweizer Unternehmen über Rekrutierungsschwierigkeiten. Die Krise zerstört Arbeitsplätze, aber trotzdem wandern ausländische Erwerbstätige, vornehmlich aus der EU, in die Schweiz ein. Die EU sorgt sich, wie sie die Pensionierungswelle der Babyboomer verkraften wird. Gleichzeitig weiss sie aber, dass sie die Lissabonner Beschäftigungsziele nicht erreichen wird. Ein Paradox sondergleichen (Quelle: swissstaffing).

Die Lissabonner Beschäftigungsziele. Die EU hat sich im Jahr 2000 zum Ziel gesetzt, die Erwerbsquote zu steigern. Diese ist nämlich deutlich tiefer als in der Schweiz. Sie betrug damals 63 Prozent und soll bis im Jahr 2010 auf mindestens 70 Prozent gesteigert werden. In der Schweiz gehen 88 Prozent der 15- bis 64-jährigen Bevölkerung einer Beschäftigung nach. Eine von Randstad beauftragte und von Seo Economic Research durchgeführte Studie1 zeigt nun, dass die EU wegen der Wirtschaftskrise sämtliche der selbst gesteckten Beschäftigungsziele verfehlen wird.

Das Lissabonner Beschäftigungspaket umfasst vier Ziele:

  • eine durchschnittliche Erwerbsquote von mindestens 70 Prozent,
  • eine Erwerbsquote von mindestens 60 Prozent für Frauen,
  • eine Erwerbsquote von mindestens 50 Prozent für 55- bis 64-Jährige,
  • eine Arbeitslosenrate von durchschnittlich maximal 4 Prozent

Im Jahr 2008 betrug die gesamthafte Erwerbsquote in der EU-27 66 Prozent. Zwei Drittel der Erwerbspersonen waren demzufolge also berufstätig. Nur sieben Länder erreichten die anvisierten 70 Prozent: Dänemark, die Niederlande, Schweden, Finnland, Österreich, Grossbritannien und Deutschland. Damit die Lissabonner Marke erreicht werden könnte, hätte die Beschäftigung in gewissen grösseren Ländern wie Polen, Italien, Spanien und Frankreich deutlich ansteigen müssen. Deshalb geht die Studie davon aus, dass das erste der Lissabonner Ziele selbst ohne Wirtschaftskrise nicht erreicht worden wäre. Das zweite Ziel, die Erwerbsquote der Frauen, erschien vor Ausbruch der Krise realistisch. Bis im Jahr 2008 war die Quote in der EU-27 auf 59 Prozent angestiegen. Einige, wiederum nordische Länder, haben Quoten, die mehr als zehn Prozentpunkte über dem Lissabonner Ziel liegen. Diese Länder kompensieren andere EU-Länder mit geringer Frauenbeteiligung am Arbeitsmarkt. Die Studie kommt nun aber zum Schluss, dass das Quotenziel für die Frauen wegen der Krise nicht erreicht werden kann. Unter den älteren Erwerbspersonen betrug die Beschäftigungsquote im Jahr 2008 46 Prozent.

Auch diesbezüglich erschien das Lissabonner Ziel vor der Krise erreichbar. Nun, nach den zum Teil massiven Wirtschaftseinbrüchen, ist das gemäss der Randstad-Studie kaum mehr der Fall. Das vierte Ziel, die Arbeitslosenrate, war schon vor der Krise ein sehr ehrgeiziges.

Im Boomjahr 2000 erreichten nur vier EU-Länder eine Arbeitslosenquote von 4 Prozent oder weniger (Österreich, Luxemburg, die Niederlande und Portugal). Der Durchschnitt der EU-15 betrug damals 7,7 Prozent. Das Arbeitslosenziel bleibt, so die Studie, ausser Reichweite. Fazit: Die EU wird die Lissabonner Ziele zum festgelegten Zeitpunkt und auch in der darauf folgenden Zeit nicht erreichen.

In der längeren Frist werden die Ziele aber nicht ausreichen, um die Arbeitsnachfrage der Unternehmen zu decken. Bleibt die Erwerbsquote konstant, wird das Arbeitsangebot in den nächsten Jahren wegen der demografischen Alterung abnehmen. Eine durchschnittliche Erwerbsquote von 70 Prozent wird demzufolge nicht genügen. 80 Prozent wären ein realistischerer Richtwert. Die Frage, wie die Arbeitsmarktpartizipation gesteigert werden kann, bleibt also sehr relevant.

Was tun gegen die Schrumpfung der Erwerbsbevölkerung?

Ein innerhalb der EU wie auch von der Schweiz gewähltes Handlungsfeld ist die Migration. Wenn es gelingt, ausländische Arbeitskräfte anzulocken, können diese den Wegfall der in Rente gehenden Babyboomer ausgleichen. Doch die Immigration wird nur einen Teil der Schrumpfung kompensieren können. Denn die Situation ist in allen Ländern Europas dieselbe. Das Reservoir an Arbeitskräften ist überall ein begrenztes beziehungsweise ein abnehmendes.

Eine zweite Option, um der Schrumpfung der Erwerbsbevölkerung zu begegnen, ist die Steigerung der Produktivität. Oder anders gesagt: mit weniger Arbeitseinsatz die Produktion beizubehalten oder sogar auszuweiten. Doch auch die Produktivitätssteigerung ist kein Patentrezept. Erstens dürfte sich eine Zunahme der Produktivität auf die Qualifikationsanforderungen auswirken. Das nachgefragte Qualifikationsniveau dürfte steigen. Für Teile der Bevölkerung, namentlich niedrig Qualifizierte, dürfte das Stellenangebot sogar sinken und die Arbeitslosigkeit steigen, während es im höher qualifizierten Segment weiterhin an Arbeitskräften mangelt. Zweitens kann mit Produktivitätssteigerung zwar die Arbeitsnachfrage gesenkt werden.

«Es entstehen soziale Probleme, wenn breite Kreise bestimmter Bevölkerungsgruppen vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen werden.»

Doch das Wachstum der Konsumentennachfrage und der Export dürften diesen Effekt überkompensieren. Schliesslich – und hierin liegt das Paradox – ist es, selbst wenn Arbeitsnachfrage und -angebot zahlenmässig übereinstimmen, möglich, dass gewisse Leute keine Arbeit finden. Die Rede ist dann von einem qualitativen Mismatch, wenn die stellensuchenden Personen nicht die erforderlichen Ausbildungen und Kompetenzen haben, um den verfügbaren Jobs gewachsen zu sein. Die einzige Lösung dafür besteht darin, dass man den Bildungsrucksack dieser Leute füllt. Denn das Problem verschärft sich, je länger sie vom Arbeitsmarkt fernbleiben. Und umso schwieriger wird es für sie, je wieder den Anschluss zu finden.

Die Personenfreizügigkeit ist der erste Teil der Lösung

Genau dieses Paradox erhitzt die Gemüter in der wieder auflebenden Debatte um die Personenfreizügigkeit. Nach wie vor sind selbst im Krisenjahr 2009 knapp 30 000 erwerbstätige Ausländer eingewandert (Wanderungssaldo). Die Zuwanderung ist allerdings gegenüber dem Vorjahr um einen Viertel gesunken.

Dass die Zuwanderung ausländischer Erwerbstätiger in der aktuellen Wirtschaftskrise nicht versiegte, hat sehr wahrscheinlich mit dem in gewissen Branchen nach wie vor bestehenden Fachkräftemangel zu tun. Ende 2009 vermeldete noch beinahe jeder vierte Betrieb (23 Prozent) Rekrutierungsschwierigkeiten beim qualifizierten Personal.

In den letzten Jahren verzeichneten der Maschinenbau beziehungsweise die Industrie im Allgemeinen, das Gastgewerbe, die Informatikdienste, das Baugewerbe sowie das Kredit- und Versicherungsgewerbe überdurchschnittliche Schwierigkeiten bei der Rekrutierung von Fachkräften. Und so erstaunt es nicht, dass gerade in diesen Branchen ausländische Erwerbstätige häufig überrepräsentiert sind beziehungsweise die Zuwanderung zum Teil überdurchschnittlich wächst. Und es ist auch ein klares Indiz dafür, dass keine Verdrängung von Schweizer Erwerbstätigen stattfindet. Dass die Zuwanderung gegenüber 2008 abgenommen hat, zeigt, dass die Personenfreizügigkeit ein flexibles System ist, das auf konjunkturelle Schwankungen reagiert.

Dafür spricht auch, dass die Zuwanderung ausländischer Erwerbstätiger nach der Einführung der Personenfreizügigkeit im Jahr 2002 zunächst etwas abgenommen hatte, um erst nach einem Jahr leicht beziehungsweise nach drei Jahren wieder merklich zuzunehmen. Zur Zeit der Einführung der Personenfreizügigkeit befand sich die Schweiz in einer Rezessionsphase. Deshalb schrumpfte die ausländische Erwerbsbevölkerung zunächst und nahm die Zuwanderung erst nach einer gewissen Zeit – mit dem Eintreten der Boomphase 2005 bis 2007 – merklich zu. Die Öffnung zur vollen Personenfreizügigkeit fiel dagegen ans Ende dieser Boomzeit (Frühjahr 2007). Die Zuwanderung erreichte bereits kurz vorher ihre Spitze, wuchs auf hohem Niveau weiter, brach aber kurz darauf mit der aktuellen Krise ein. Die Zuwanderung hatte notabene schon vor der Einführung der Personenfreizügigkeit, im Boomjahr 2001, den Spitzenwert von 2006 erreicht. Das ist sehr wahrscheinlich die Auswirkung des schon seit längerer Zeit vorhandenen Fachkräftemangels.

Trotzdem ist die Arbeitslosigkeit in der aktuellen Krise angestiegen. Hohe und in der Wirtschaftskrise merklich steigende Erwerbslosenquoten weisen vor allem jene Nationalitätengruppen auf, die schon längere Zeit in der Schweiz weilen (beziehungsweise bereits in der Vorgeneration eingewandert sind): Personen aus dem Westbalkan, der Türkei und von ausserhalb Europas. In erster Linie betroffen sind also Personen von ausserhalb der EU, die nicht über das Vehikel der Personenfreizügigkeit in die Schweiz gelangt sind. Ihre Erwerbslosenquote betrug im zweiten Quartal 2009 zwischen 9 Prozent und 13,8 Prozent – gegenüber 3,1 Prozent bei den Schweizern und 4,6 Prozent bei den EU-Angehörigen.

Allerdings ist ihre Erwerbslosenquote zum heutigen Zeitpunkt trotz der Öffnung zur vollen Personenfreizügigkeit noch weit entfernt von der in der letzten Rezession erreichten Spitze (12 Prozent bis 18 Prozent). Ein wichtiger Grund für die höhere Erwerbslosenquote ist das deutlich unterdurchschnittliche Ausbildungsniveau dieser Personengruppen.

Gezielte Bildungsmassnahmen: der zweite Teil der Lösung Die Zahlen zur Arbeitslosigkeit zeigen, dass man bei der Beurteilung der ausländischen Arbeitnehmerschaft unbedingt differenzieren muss. Viele der heute in der Schweiz wohnhaften ausländischen Arbeitnehmenden sind vor längerer Zeit eingewandert, zum Beispiel aus Italien oder Ex-Jugoslawien. Diese Leute haben gesamthaft gesehen ein deutlich tieferes Bildungsniveau als die neuen Zuwanderer, die mit der Einführung der Personenfreizügigkeit in die Schweiz gekommen sind. Die Struktur der ausländischen Erwerbsbevölkerung wird noch lange Zeit durch die Merkmale der bereits über Jahre ansässigen ausländischen Bevölkerung definiert.

Die Neuorientierung der Migrationspolitik, weg von Drittstaaten hin zur EU, zeitigt zwar den erwünschten Effekt auf das Ausbildungsniveau der neuen Zuwanderer. Mit rund 30 000 Zuwanderern jährlich (netto) wird es aber Zeit brauchen, bis sich das Qualifikationsniveau der 1,24 Millionen ausländischen Erwerbstätigen verschiebt. Der qualitative Mismatch am Arbeitsmarkt besteht somit auch in der Schweiz. Diesem sollte dringend begegnet werden, denn er schafft an zwei Fronten gleichzeitig Probleme: Einerseits verschärft sich der Fachkräftemangel, wenn es nicht gelingen sollte, das Kompetenzportfolio der (inländischen) Erwerbsbevölkerung auf die Erfordernisse des Arbeitsmarktes abzustimmen.

Andererseits entstehen soziale Probleme, wenn breite Kreise bestimmter Bevölkerungsgruppen vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen werden.

Die (Weiter-)Bildungs- und Integrationspolitiker sind also gefordert. Wenn es gelänge, die überproportional von Arbeitslosigkeit Betroffenen mittels Qualifizierung oder Umschulung einer Fachqualifikation zuzuführen, dann würde dies gleichzeitig zur Linderung des Fachkräftemangels und zur Minimierung der Arbeitslosigkeit beitragen.